Im Zeichen der Apokalype. Eine Welt der Krisen, Konflikte, Kriege - gibt es Auswege?
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Bild: Auf dem Weg der Apokalypse / Matt Heinrichs "Sand". Quelle: Pixabay. |
„Und ich hörte (in meiner Vision), wie sich die Elemente der Welt mit einem wilden Schrei an einen Mann wandten und riefen:´Wir können nicht mehr laufen und unsere Bahn nach unseres Meisters Bestimmung vollenden. Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von unterst zu oberst. Wie stinken wie die Pest und vergehen vor Hunger nach gerechter Behandlung.`“
Ist das eine Schilderung aus unserer Zeit?
Die sprachlichen Formulierungen verraten, dass es sich um keinen zeitgenössischen Text handelt. Er wurde im 12. Jahrhundert verfasst, von der Seherin Hildegard von Bingen. (1) Trotzdem erscheint er uns aktuell.
Hildegard von Bingen wird vom Heiligen Geist (rote Flammen) inspiriert. Ausschnitt
In der Tat: wir erleben ein Durcheinander der „Elemente“, das sich gegen uns wendet: Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürreperioden, Waldbrände, Erdbeben, Erdrutsche, Hurrikane … Schien das früher als Ausnahmeerscheinungen, als etwas, das ferne Kontinente und Gegenden betraf, so ist uns das heute nahe gerückt und kann jeden jederzeit betreffen. Es ist schwer zu bestreiten, dass dies mit durch unsere Produktions- und Lebensweise verursachten Klimaveränderungen zusammenhängt, mit den Folgen von ausbeuterischem, respektlosem Umgang mit der Natur, von unbedachtem Handeln, rücksichtsloser Profitgier, versäumten oder unklugen politschen Entscheidungen. Nach einer Kindheit unter den Folgen der europäischen Katastrophe des Faschismus bin ich als Erwachsener in der Hoffnung auf eine menschlichere und friedlichere Welt angetreten. Heute blicke ich nicht auf eine „bessere“ Welt, sondern auf dystopische Lebensverhältnisse. Auch das „Klima“ des menschlichen Zusammenlebens ist gestörtNicht nur das metereologische Klima, sondern auch das „Klima“ des menschlichen Zusammenlebens, des Zusammenhalts, der Zusammenarbeit ist gestört und bedroht unsere Lebensicherheit, national, global. National: Übereinkünfte schwinden, Spaltungen tun sich auf, soziale Gegensätze verschärfen sich, Intoleranz, Hass und Gewaltbereitschaft nehmen zu , ein Teil der Bevölkerung folgt demagogischen Parolen, demokratische Grundlagen werden abgelehnt, Informationen und Meinungen manipuliert, Wahrheiten verdreht, Gewalttaten von Extremisten und sonstige Kriminalität schüren Ängste, eine labile Wirtschaft schafft Unsicherheit … und was es an dergleichen verstörenden Entwicklungen sonst noch gibt! Global sorgen die Kluft zwischen armen und wohlhabenden Ländern, Bevölkerungszunahme, Korruption, Ausbeutung, Armut, Hunger, Perspektivenlosigkeit in den Ländern des „globalen Südens“ für immer wieder aufflackernde Konflikte, Terror, Migrantenströme … Die Miseren sind von den reicheren Länder wie USA und Europa mitverschuldet und der Versuch sich abzuschotten, dürfte auf die Dauer vergeblich sein. Nicht endenwollende Kriege - nicht nur in der Ukraine und Palästina – bergen die Gefahr der Eskalation und Ausbreitung auf ganze Kontinente, wenn nicht die Welt, mit sich. Hierzu einige zahlenbasierte Schlaglichter
- Bei einer Weltbevölkerung von mehr als 8 Millarden Menschen lebt nur ein kleiner Teil in „nachhaltigem Wohlbefinden“, vor allem in Europa (erkauft mit einem großen negativen „ökologischen Fußabdruck“). (Happy Planet Index)
- Der größte Teil der Weltbevölkerung lebt in Asien (59%) und Afrika (18%). Die Europäer sind mit 9% eine kleine Minderheit. (UN/Destatis) In Asien und Afrika finden sich auch die Länder mit dem niedrigsten Durchschnittseinkommen weltweit. - 9 % der Weltbevölkerung lebt in extremer Armut, vor allem in Konfliktzonen wie der Subsahara. Insgesamt sind 1,3 Millarden Menschen weltweit von „mehrdimensionaler“ Armut betroffen. (Weltbank-Bericht 2022) Einkommensverteilung in der Welt. Rot sind die ärmsten Länder eingezeichnet, grün die reichsten. Quelle: laenderdaten.info - 340 Millionen Menschen befinden sich in „humanitärer Not“ und sind auf humanitäre Hilfe angewiesen; 100 Mill. befinden sich vor Krieg, Verfolgung und anderen Notlagen auf der Flucht. (IRC/2024). Ca. 10% der Weltbevölkerung galten 2022 als unterernährt. (FAO) - 1/4 der Menschheit, lebt in Konfliktzonen, die oft auch soziale und ökologische Problemgebiete sind. Brennpunkte gibt es in Afrika, dem Nahen Osten, Lateinamerika, Asien und im Europa des postsowjetischen Raums.
- Gewaltsame innerstaatliche Konflikte sind die häufigste Konfliktart (30%). Hierbei geht es um den Machterhalt von Autokraten, um Auseinandersetzungen ethnischer, religiöser Gruppen oder Banden/Milizen mit Regierungen. - Befeuert werden Konflikte vielfach durch die Einflussnahme oder Eingreifen von Außenmächten. In 216 gewaltsam ausgetragenen Konflikten und 42 Kriegen gab es 2022 238 000 Tote (vor allem in Äthiopien und in der Ukraine). Inzwischen liegen weit höhere Schätzungen vor. - Konflikte nehmen zu, auch grenzüberschreitende, bewaffnete (2022: 98 Länder verwickelt). (Die Angaben zu den Konflikten nach IEP und HIIK) Demensprechend steigen weltweit die Rüstungsausgaben und Waffenexporte (SIPRI-Bericht). - Die Aufrüstung ist ein Zeichen des Anwachsens von Konfliktbereitschaft, Mißtrauen, eigennützigem Sicherheitsstreben und mangelndem Kooperationswillen. - Von 195 anerkannten Staaten der Welt gelten 90 als „frei“, in 105 entbehren Menschen ganz oder teilweise elementarer ziviler Rechte (80% der dabei erfassten Bevölkerung). (Freedom House 2024) Der seinerzeit von Trump (2017) und jetzt von Putin angedrohte Einsatz von nuklearen Waffen lassen das Ende der bisherigen Lebensverhältnisse und der Menschheit als möglich erscheinen. 1983 - während der Zeit des "Kalten Krieges" - erschienen in Science Artikel, in denen amerikanische Wissenschaftler die Folgen eines Atomschlag beschreiben. (2) Schon bei der Annahme eines „kleinen“ Atomkrieges kommen die Autoren zu dem Schluss: „Die Möglichkeit, dass Homo sapiens ausstirbt, kann nicht ausgeschlossen werden.“ Das was Evolution und menschliche Kultur hervorgebracht hat, würde im Falle des Misslingens einer fragwürdigen Strategie der atomaren "Abschreckung" auf ein rudimentäres Niveau sinken oder ganz vernichtet werden. Auch die Störanfälligkeit von technischen Systemen wie Atomkraftwerke, der Energieversorgung, der weltweiten digitalen Vernetzung, machen Horrorszenarien vorstellbar. Durch den Einbruch des Sars-Cov-2-Virus wurde das „System Menschheit“ auf einen zeitweiligen „Notbetrieb“ heruntergefahren. (3) Wissenschaftler warnen vor anderen gefährlichen Viren, die unter von Menschen geschaffenen Umständen weitere Pandemien auslösen können. Untergangsszenarien in der Vergangenheit: Hildegard von Bingen und der 30-jährige KriegMan könnte sagen: „Regt euch nicht auf, es gab zu allen Zeiten Entwicklungen, die Natur, Menschen, Gesellschaften bedrohten, Krisen, Kriege, Katastrophen, und immer wieder wurde das Ende der Zeiten, der Weltuntergang beschworen. Trotzdem ging es weiter." Periodisch hat in Krisen- und Umbruchszeiten
Weltuntergangsangst – und stimmung um sich gegriffen. In Europa um das Jahr
1000, im 12. und 13. Jahrhundert (Hildegard von Bingen, Joachim von Fiore),
Ausgang des Mittelalters/zu Anfang der Neuzeit (Vorreformatoren, Luther,
Müntzer und andere „Chiliasten“, die auf ein 1000-jähriges Friedensreich hofften nach der "Endschlacht"). Auch während des 30-jährigen Krieges, im 18. Jahrhundert (Pietisten), zur Zeit
des Ersten und Zweiten Weltkrieges brach Endzeitsstimmung auf. So sah Hildegard von Bingen in ihrer Zeit das Ende des „Weltenlaufes“ gekommen. Sie erwartet, dass Gott „die Welt mit seinem Besen, das heißt mit Gericht und Züchtigungen, reinigen werde, und dass er die Menschen, die von Schuld befleckt sind, mit zahlreichen Geißeln und Katastrophen immer wieder peinigen werde, bis sie endlich in Reue wieder zu Ihm zurückkehren.“ (4) Sie sieht die Auflösung der gealterten Erde und das letzte göttliche Gericht über die Menschen nahe. „Die letzten Zeiten werden von vielen Gefahren erschwert sein und viele Anzeichen werden auf den Untergang der Welt hinweisen.“ (5) Das Toben der „Elemente“ - zurückgehend auf ein Ungleichgewicht zwischen Natur und Mensch - ist eines dieser Zeichen, ebenso wie die durch partikularistischen Eigenwillen aus den Fugen geratene Ordnung der Gesellschaft. Nach Sicht der frommen Äbtissin hat dies mit der Abwendung von Gott und seiner Schöpfungsordnung, von der sein Heilswerk vermittelnden authentischen Kirche und von den „Tugenden“ - den Prinzipien heilsamer Lebensführung - zu tun. Auch das Auftauchen eines widergöttlichen, diabolischen „Verführers“,
der Menschen täuscht, manipuliert, unterwirft und in die Irre führt, gehört zu den Zeichen der Endzeit. Aus dem Lateinischen übersetzte Ausgabe des Liber Scivias von Hildegard von Bingen mit dem Eröffnungsbild im Rupertsberger Codex, das den "Tag der großen Offenbarung" symbolhaft darstellt. Unten der Erdkreis mit den tobenden und menschenverschlingenden Elementen, umgeben von den Erlösten und Verdammten, in der Mitte der posaunenblasende Gerichtsengel, darüber Christus als Weltenherrscher und -richter. Unten auf der einen Seite die aus den Gräbern (Knochensymbol) Auferweckten und Erlösten, auf der anderen Seite die dunklen Gestalten Satans und der Verdammten. Ganz oben die himmlische Welt um Christus mit Engeln, Ältesten, Märtyrern, Heiligen. Hildegard sieht sich – typisch für Apokalyptiker - als
Prophetin der Endzeit, als Wahrnehmende, Wissende unter Nicht-Sehenden und
Nicht-Sehen-Wollenden. Ihr seien die Wege Gottes, die Wege zum heilsamen und und
unheilvollen Leben und die Abfolge der Zeiten offenbart worden („Scivias“/
„Wisse die Wege“ - heißt der Titel ihres Hauptwerkes). Sie sieht ihre epochale
Aufgabe darin, die Wege Gottes für die Menschen ihrer Zeit zu „enthüllen“
(Apokalypse = griech.: Enthüllung), sie zu warnen und auf das Ende vorzubereiten.
Dabei ist ihre „Zeitanalyse“ auch Parteinahme mit politischem Charakter – ebenfalls
typisch für Apokalyptiker – gegen in ihren Augen kirchliche und
gesellschaftliche Missstände, gegen ihre Aufgaben vernachlässigende kirchliche
und weltliche Würdenträger, gegen anti-päpstliche Politik des „Endzeit-Kaisers“
(Friedrich I. Barbarossa), gegen Ketzerbewegungen (Katharer) …
Das stammt aus fernen Zeiten und ist in zeitgnössisches Kolorit gekleidet. Dennoch können uns die die von der jüdisch-christlichen Apokalyptik und ihren Schriften (u.a. der neutestamentlichen „Offenbarung des Johannes“) gespeisten Bilder und Symbole der Visionen der „Magistra“ (Kirchenlehrerin) Hildegard in manchem berühren. Im 30-jährigen Krieg wurde ein Großteil Deutschlands von Menschen entleert und verwüstet. Zu dem Gemetzel auf den Schlachtfeldern und den Übergriffen der Söldner auf die Bevölkerung kamen Hungersnöte und Epidemien hinzu. Der Dichter Andreas Gryphius beschreibt das Elend in seinem Gedicht „Thränen des Vaterlandes / Anno 1636“: „Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!...“ Schon bald verkündeten Prediger von den Kanzeln, die letzte Phase der Menschheit mit ihren Schrecken sei angebrochen, die Wiederkunft Christi stehe bevor. Ein Komet, der sich 1618 am Himmel zeigte, sei ein eindeutiges Zeichen dafür. Der mit der Endzeitankündigung verbundene Ruf zu Buße und Umkehr richtete gegen den jeweiligen mit Hass bedachten konfessionell-politischen Gegner. Insofern kann Apokalyptik auch als Bedrohungsinstrument verwendet werden, schlimmstenfals als „gouvernementales“ Kalkül, um Gegner herabzusetzen oder abzuschrecken. (6) Der "Galgenbaum" (1633) aus Jacques Callots Serie "Les Grandes Misères de la guerre" wurde zum Symbolbild des Dreißigjährigen Krieges. Er zeigt die Hinrichtung von Menschen in einem Heerlager. Warum die Menschen verurteilt wurden, ist unbekannt. Es sind wohl zivile und militärische "Abweichler" irgeneiner Art - in den Augen der hier vertretenen Heeresführung. Quelle: wikipedia.org. Die Drohungen mit dem Ende aus dem Arsenal der traditionellen christlichen Apokalyptik haben heute ihren Schrecken verloren. Doch ob es uns beruhigen kann, dass das in diesen Apokalypsen vorgestellte Ende nicht kam und nicht zu erwarten ist, erscheint fraglich. Sind wir auf dem Weg unserer eigenen fortschreitenden Apokalypse, gar zu ihrem Kataklysmus? Luca
Signorelli "Das Ende der Menschheit" (so genannt). Ausschnitt aus der
Szene "Die Verdammten" im Freskenzyklus zum Jüngste Gericht (1499) im
Dom zu Oviedo (Kapelle San Brizio). Im Grund stellt Signorelli in der
Höllenszene das gegenseitige Gemetzel unter Menschen auf Erden dar. John Martin - englischer Maler (1789 -1854), malt viel alttestamentliche Szenen. Hier das 1851 entstandene Ölgemälde "The Great Day of His Wrath" (so genannt), das sich in den Tate Gallerien, London, befindet. (Quelle: englische Wikipedia / Google Art Project). Martin sieht das Ende der Welt und Menschheit in von "Gottes Zorn" hervorgerufenen Naturkatastrophen. Apokalyptik in der GegenwartWer nicht die Augen vor dem verschließt, was um uns herum vorgeht, kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass Entwicklungen und Krisen sich zuspitzen und weiteren Katastrophen, wenn nicht dem großen Kollaps, zusteuern. Es verwundert nicht, dass mit Beginn der Möglichkeit eines atomaren Holocausts Denkfiguren der Apokalyptik und apokalyptische Bilder wieder aufgenommen wurden, allerdings in säkularer Weise. (7) Dies geschah je nach Weltsituation in Wellen und findet seit längerem zunehmende Verbreitung. Als „apokalyptisch“ wird hier unsere Situation insofern gekennzeichnet, als wir im Bewußtsein leben, dass ein – von Menschen gemachtes – Ende der Welt denkbar und vielen eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich vorkommt. In der Verwendung der apokalytischen Zeichensetzung wird Kritik an einer auf ungehemmtes Wirtschaftswachstum, auf ausbeuterischen Umgang mit natürlichen Ressourcen, auf unkritisches Vertrauen auf technischen Fortschritt und auf Hochrüstung zielende Politik geübt. Insofern ist „apokalyptisch“ ein Schlag- und Tendenzwort in der gesellschaftliche-politischen Diskussion geworden. So bezeichnet der Psychiater, Publizist und Fernsehmoderator Hoimar von Ditfurth in seinem 1985 erschienenen Buch „So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist soweit“ die Vorbereitung des atomaren Krieges und die Zerstörung der Biosphäre als die „apokalyptischen Reiter“ unserer Zeit, die die drohende und dem Autor fast unausweichlich erscheinende Vernichtung der Menschheit und ihres Lebensraumes anzeigen. (8) Zu Beginn der 1980-Jahre unterstützte von Ditfurth persönlich und ideologisch mit seinen ökologischen und pazifistischen Thesen die „Grünen“ im Wahlkampf. Die vier apokalyptischen Reiter Dürers (nach Offenbarung des Johannes Kap. 6) verkörpern Triumpf des Krieges (Bogen), Unfrieden (Schwert), Teurung (Waage), Tod (Dreizack) durch Seuchen, Hunger, "wilde Tiere". Der Holzschnitt stammt aus dem 1498 veröffentlichten Druckwerk: Die heimlich offenbarung iohannis, (lateinisch) Apocalipsis cum figuris. Quelle: wikipedia.org.
Das Bewußtsein in einer Krisen- und Endsituation zu leben, verbindet heutiges säkulares apokalyptisches Denken mit der religiös begründeten Apokalyptik früherer Zeiten, allerdings mit dem Ausfall der Heilserwartungen der religiösen Apokalyptik. Hildegards Visionen reichen über das Ende der bisherigen Welt- und Menschenverhältnisse hinaus. Nach ihr werden aus den endzeitlichen Geschehnissen eine neue gereinigte Menschheit und Welt hervorgehen, in der die Elemente „in größter Klarheit und Schönheit erstrahlen … und die Erde ganz unverwüstlich und ohne Verunstaltung erscheint.“ (9) Säkularen Menschen sind Heilserwartungen dieser Art abhanden gekommen. Sie finden sich noch in fundamentalistischen oder esoterischen Sondergruppen. Der Schriftsteller G. Anders schrieb anfangs der 50-ziger Jahre – wenige Jahre nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki: „Zu denken uns aufgegeben ist heute der Begriff der nackten Apokalypse, das heißt: der Apokalypse, die im bloßen Untergang besteht, die also nicht den Auftakt zu einem neuen und zwar positiven Zustande … darstellt.“ (10) Führt in der jüdisch-christlichen Apokalyptik Gott das Ende herauf, so schafft sich heute der Mensch seine Apokalypse oder Apokalypsen selber. Offenbart sich im Endgericht der traditionellen Apokalyptik die Gerechtigkeit Gottes und erscheint eine neue himmlische Wohnstatt, so breitet sich nach dem atomaren Knall wieder Urzeit-Schweigen über eine verwüstete Erde aus. Ergeht im „Jüngsten Gericht“ der Richtspruch Christi - der Gnade für die Guten vorsieht - so spricht in der ökölogischen und nuklearen Zerstörung der Mensch selber sein vernichtende Urteil über sich und seine Geschichte. Apokalypse - Gemälde des englischen Malers düsterer Landschaftsszenen Albert Goodwin, 1903. Quelle: wikipedia.org Die Schrecken, die in früheren Zeiten zur Endzeitstimmung führten, waren räumlich, zeitlich und in ihrer Zahl begrenzt. Wir leben in einer globalisierten Welt und die anstehenden großen Herausforderungen mit ihrem Bedrohungspotential betreffen nicht nur einzelne Völker, sondern die ganze Menschheit. Es ist auch eine große Zahl von ungelösten und miteinander vernetzten Problemen, die uns beschäftigen. Je weniger wir dagegen steuern, desto schneller und höher wächst das Bedrohungspotential an. Wir können auch nicht übersehen, dass sich nicht nur in der Zukunft mögliche Katastrophen abzeichnen, sondern schon jetzt permanent Katastrophen in vielen Teilen der Welt Menschen und Umwelt heimsuchen. Die heutige Apokalypse muss nicht – wie in der taditionellen Apokalyptik erwartet - in einem vernichtenden Großereignmis ("Kataklysmus") enden, sondern kann viele Formen annehmen und sich in vielfachen Katastrophen vollziehen, schleichend oder rasch, gebündelt oder einzeln. Klima, Pandemie, Nuklearwaffen, Technologie, Astroiden, Kontinentalverschiebungen, Ökologie, Gesellschaft, Wirtschaft sind mögliche Faktoren und Auslöser, die sich zu katastrophalen Ereignissen zuspitzen können. Der Philosoph P. Sloterdijk kennzeichnet 1986 die veränderte Situation folgendermaßen: „Wer nicht panisch ist, ist nicht auf dem laufenden … Das heutige Alternativbewußtsein zeichnet sich durch etwas aus, was man als ein empirisches Verhältnis zur Katastrophe bezeichnen könnte. Das Katastrophale ist eine Kategorie geworden, die nicht mehr zur Vision, sondern zur Wahrnehmung gehört. Heute kann jeder Prophet sein, wenn er den Mut dazu aufbringt, bis drei zu zählen. Die Katastrophe bedarf weniger der Ankündigung als der Mitschrift, sie hat ihren sprachlichen Ort nicht in apokalyptischen Texten, sondern in Tagesnachrichten und Ausschußprotokollen.“ (11) Man mag einwenden, der apokalyptische Eindruck unserer Gegenwart werde medial inszeniert, manche sagen gelenkt, um uns bereit für politische Ideologien und ihre Umsetzung zu machen. Ohne Zweifel besteht in den öffentlichen Medien die Tendenz schlimme und katastrophale Ereignisse hervorzuheben. Manchmal möchte man wirklich keine Nachrichten mehr sehen oder hören, weil immer auf´s neue negative Botschaften auf uns eindringen. Dass es auch Verbesserungen und Fortschritte in sozialen, wirtschaftlichen, politischen und technischen Bereichen gibt, wird häufig nur versteckt berichtet. Auch das Engagement vieler Menschen, ihr Eintreten für lebenswerte, gerechtere und humane Verhältnisse wird oft nur am Rande wahrgenommen. Andererseits lässt sich die Gefährdung von Menschen und Umwelt durch hier genannte Entwicklungen durch Augenschein, Zahlen, Daten und Fakten belegen. Der schon erwähnte G. Anders sprach von „Apokalypseblindheit“. Viele überfordert die Vielzahl, Überdimensionalität, Unüberschaubarkeit, manchmal Unsichtbarkeit, Unvorstellbarkeit der Gefahren und überschreitet ihre Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit. Sie ziehen sich ins Private zurück, bauen an ihrem kleinen Glück, manche resignieren, andere ignorieren die globalen Probleme, wieder andere leugnen sie. Nicht wenige erkennen zwar die Lage und bejahren theoretisch Veränderungen in Produktionsweise und Lebensstil. Geht es aber darum, dass sie selbst Opfer bringen sollen, verweigern sie dies. Vor allen Gutsituierte wollen auf ihre Vorzüge und Luxusleben nicht verzichten und setzen sich über alle Einwände hinweg. Superreiche zerstören durch ihren Lebenstil im extremen Maße das Klima. (Oxfam: Carbon Inequality Kills, 1924) Nicht zu übersehen ist auch die gelenkte Verharmlosung durch Teile der Wirtschaft und Politik. Die einen sehen durch Veränderungen ihre Profite bedroht, die anderen durch etwa notwendige Maßnahmen Wählergunst und Einfluss. Ethikfernes kapitalistisches
Wirtschaften verursacht fortschreitende Schädigung der Umwelt und Störungen menschlicher VerhältnisseGeorge Grosz, Sumpfblumen des Kapitalismus, 1919. Quelle: https://www.weltkunst.de/ausstellungen/2022/05/gnadenloser-beobachter-george-grosz-museum-berlin
Man könnte sagen, es ist mangelnde Anpassungsfähigkeit von Menschen, die entschiedenes Handeln in den Überlebensfragen und -problemen unserer Zeit hemmt. Das ist nur ein Teil der Ursachen der fortschreitenden apokalyptischen Zutände und Entwicklungen. Die wirtschaftlichen Systeme, die sich in der heutigen Menscheit ausgebreitet haben und die die Lebensverhältnisse beherrschen, beruhen auf kapitalistischen Prinzipien. Dies gilt für den westlichen, auf Privatwirtschaft beruhenden liberalen (Neo-)Kapitalismus, aber auch für den in anderen Teilen der Welt herrschenden staatlich gelenkten Kapitalismus. Kapitalistisches Denken, Handeln und Produzieren zielt auf Profitmaximierung und auf eine rationale, möglichst effektive Verwertung der eingesetzten Produktionsmittel, ohne dabei Aspekte der Nachhaltigkeit, der Ethik und möglicher negativer sozialer oder ökologischer Folgen wesentlich zu berücksichtigen. Dies war nicht immer so. Nach Max Weber hat der "Geist des modernen Kapitalismus" Wurzeln in der protestantischen Berufs- und Arbeitsethik. (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1920) Arbeit sollte nicht nur durch "innerweltliche Askese", rationale Ausrichtung und Erfolgsorientierung der Bewährung des Einzelnen vor Gott und der Gesellschaft dienen, also individualistisch ausgerichtet sein, sondern - was bei Weber und seinen Nachfolgern nicht betont wird - in Verantwortung und als Dienst am Nächsten geleistet werden, somit gemeinschafts- und gemeinwohlbezogen. Der moderne Kapitalismus hat diese religiösen und ethischen Wurzeln abgelegt und beschränkt sich auf die ökonomisch-rationale Seite dieser Herkunftslinie. Eine Rückbesinnung auf die ethische Seite wäre also nicht gänzlich kapitalismusfremd und heute wieder angebracht, Profitmaximierung erfordert ständige Erweiterung der Produktion ("Wachstum") und Vermehrung der produzierten Waren sowie ihre rasche Ersetzung durch neue Produkte ("Konsum"), außerdem die Ausdehnung des Marktes und die Beseitigung divergierendert Produktions- und Wirtschaftsverhältnisse. Der Erfolg des Wirtschaftens nach kapitalistischen Prinzipien beruht auf der wirtschaftlichen Effektivität und - zumindest beim modernen Kapitalismus - auf dem Wohlstandszuwachs bei denen, die an den Wirtschaftsprozessen beteiligt sind, wenn auch der Gewinnzuwachs ungleich verteilt wird. Weltweit gesehen, sind die Länder des "Globalen Südens" die Verlierer. Die Erfolgsseite lässt Menschen, denen Kapitalanhäufung und Wohlstand oberste Richtschnur ist, leicht die Seite der nachteiligen Folgen übersehen. Es ließe sich nachweisen, dass nahezu alle hier benannten Probleme und Krisen nicht nur mit menschlicher Ignoranz, Unfähigkeit, Unwilligkeit oder gar Böswilligkeit zu tun haben, sondern mit der kapitalistischen Ausrichtung der bestehenden, herrschenden Wirtschaftssysteme zusammenhängen. Das Prinzip der Profitmaximierung führt nicht nur zu einer Wirtschaft, die die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit sukzessive ruiniert, sondern zerrüttet auch menschliches
Zusammenleben. Es führt zu übersteigertem Konkurrenzstreben, in dem sich jeder rücksichtslos durchsetzen
will und erschwert so gemeinsames, solidarisches Handeln, in den einzelnen
Gesellschaften und unter Völkern. Der massive Konkurenzkampf zwischen Ländern,
krasser nationaler Egoismus, der Imperialismus der Großmächte, ihr Wettrüsten sind
Ausdruck der Auswirkung kapitalischer Prinzipien im politischen Bereich. Immer geht es bei dem Bestreben, die eigene Machtsphäre zu vergrößern auch darum, die Erträge der eigenen Wirtschaft zu steigern und den eigenen Wirtschaftraum zu erweitern. Ungezügeltes Wachstum der Wirtschaft, des Verbrauchs und Konsums verursachen Raubbau an den natürlichen Ressourcen - ohne dass für ihre Erneuerung gesorgt wird - und belasten Umwelt, Menschen und andere Lebewesen. Immer mehr Rohstoffabbau, immer mehr Energieverbrauch, immer mehr
Konsum, immer mehr Verkehr - das bedeutet immer häufigere und heftigere klimatische Katastrophen, immer mehr
Unwirtlichkeit der Städte, immer mehr Zerstörung von Landschaft und Naturräumen, immer mehr Umwelt-, Luft- und Meeresverschmutzung, immer weniger natürliche Resourcen, immer weniger
Artenvielfalt. Zusammengefasst: es bedeutet, dass das fragile, aber bis zu einem gewissen Grad der Schädigungen sich immer wieder erneuernde ökologische Gleichgewicht des Planeten Erde aus der Balance gebracht wird. Kippt es, dann geht es rapide abwärts mit der Qualität der Lebensbedingungen. Heute haben sich die Schädigungen des Klimas, der Umwelt schon so akkumuliert, dass wir das "immer mehr ..." gar nicht mehr brauchen, um verheerende Folgen auszulösen. Nach dem "Statistical Review of World Energie 2024" des "Energy Institut" hat der weltweite Verbrauch fossiler Energieträger im Jahre 2023 und damit der Ausstoß klimaschädlicher Emissionen Rekordhöhen erreicht, dies trotz des Anwachsens der Energiegewinnung aus erneuerbaren Ursprüngen in einigen Ländern. Vermerkt wird auch, dass 2023 global das wärmste Jahr seit Aufzeichnungsbeginn gewesen sei. (Dazu auch ein Artikel der SZ vom 20/06/24.) Die "Tropikalisierung" bisher gemäßigter Zonen - wie des Mittelmeerraumes - schafft für diese Räume Gefährdungen, die bisher überwiegend in tropischen Zonen bestanden oder von dort ihren Ursprung nahmen. Die Erwärmung des Mittelmeeres und die daraus resultierenden Wetterphänomene machen die umliegenden Länder zu den durch metereologische "Monsterereignisse" am stärksten bedrohten Gebieten in Europa. Vermehrter Wohlstand ist nicht mit mehr Lebensqualität gleichzusetzen - ein Irrtum, der für viele Arbeitnehmer, Wirtschaftsleute und Politiker handlungsleitend ist und zur Ansicht, ständiges Wirtschaftswachstums sei notwendig, beiträgt. (12) Da wo Lebensgrundlagen ausreichend gesichert sind, sollte eine andere Definition von "Lebensqualität" im Bewußtsein der Menschen Geltung gewinnen. Unter kapitalischen Verhältnissen ist es schwierig, gemeinsame Lösungen der Überlebensprobleme der Menschheit zu finden und entsprechende übergreifende Abmachungen zu treffen. Es ist klar, dass kapitalistisches Wirtschaften ein massives Behauptungs- und Beharrungsvermögen besitzt. und nicht leicht zu verändern oder gar zu ersetzen ist. Es hat sich zum Moloch entwickelt, der Menschen und Natur frisst - und wird von großen Profiteuren mit allen Mitteln verteidigt. Doch „ein abrupter Übergang in eine antikapitalistisch strukturierte Wirtschaft und Gesellschaft wäre selbst für Marxisten und Linke nicht wünschenswert. Dies ginge nur unter heftigen Widerständen, mit enormen lebensweltlichen Brüchen und menschlichen Opfern, wahrscheinlich nicht ohne Gewalt. Für eine Übergangszeit wären nicht einmal die materiellen Lebensgrundlagen der Bevölkerungen gesichert.“ (13) Fatal ist auch, dass die westlichen Demokratien ein Bündnis mit dem Neo-Kapitalismus eingegangen sind - es wären auch andere Wirtschaftsformen denkbar. Gesellschaftliche Freiheit wurde mit wirtschaftlichem Liberalismus gleichgesetzt, persönliche Entfaltung mit wirtschaftlichem Wachstum, soziale Ausrichtung mit der "sozialen" Marktwirtschaft. Auf der einen Seite verstellt das den Blick auf alternative Wirtschaftsmodelle, auf der anderen werden die unübersehbaren "Sumpfblüten" kapitalistischen Wirtschaftens freiheitlich-demokratischen Verhältnissen angelastet. Populistische Politiker aller Couleur wissen das auszunutzen, wobei sie - zumindest im Falle der extremen Rechten - demokratische durch autoritär-diktatorische Verhältnisse ersetzen wollten, kämen sie an die Macht, nicht aber den Kapitalismus antasten würden. Es bleibt wohl nicht anderes übrig, als auf eine Reformierung kapitalischen Wirtschaftens zu setzen. Es wird ja auch in keiner Gesellschaft rein nach kapitalistischen Prinzipien gewirtschaftet. Überall greifen Regierungen regulierend und abmildernd ein. In entwickelten Ländern flankieren Sozialsysteme die Produktionsprozesse. In demokratisch verfassten Staaten interagieren kapitalistisch orientierte Interessengruppen mit sozial oder ökologisch orientierten Vereinigungen, die Einfluss ausüben. Auch der Druck von einzelnen, die sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen, zeigt Wirkungen. Es ist schwierig, aber nicht aussichtslos, das kapitalistisch ausgerichtete Wirtschaften zu modifizieren, hin auf Wachstumsbeschränkung, Gewinnmäßigung, Nachhaltigkeit, soziale Rücksichtnahme, gesellschaftliche und globale Solidarität, Gemeinwohlberücksichtigung, „Non-Profit“- Investitionen … Wie ich schon ausführte, das wäre nicht "kapitalismusfremd", sondern ein Rückgang auf ethische Wurzeln und christentumkonforme Werte, durchaus auch in einer alternativen biblischen Linie, die nicht auf Beherrschung der Schöpfung, sondern auf ihre Bewahrung zielt (eine Tradition, in der Hildegard von Bingen mit ihrer ökologischen Weltsicht steht - um an den Anfang dieses Aufsatzes anzuknüpfen). Zumindest die Einsicht unter den Beteiligten müsste greifen, dass kapitalistisches Wirtschaften sich selbst die Grundlagen entzieht, wenn es einen für die Menschheit letzten Endes ruinösen Kurs verfolgt. "Kapitalismus ist ungesund - sogar für die Kapitalisten." (Ernst Bloch) (14) Tatsächlich
hat die Suche nach alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepten längst begonnen ünd wirkt sich auf Unternehmen
und Politik aus – wenn auch zögerlich und eingeschränkt. Bezeichnend ist, dass ein Konzern wie die "Allianz" - Versicherungen sind an sich genuin kapitalistische Unternehmen - eine "Strategie für mehr Nachhaltigkeit" aufbaut. Für Versicherungen werden die Folgen ruinierter Lebensgrundlagen am ehesten spürbar. Es sind andere Szenarien für ein „Ende“ denkbar, als sie moderne Apokalyptiker erwartenIch wende mich nicht nur gegen „Apokalypse-Blindheit“,
sondern auch gegen eine „Apokalypse-Gläubigkeit“, die keine Auswege mehr sieht.
Ich behaupte nicht, dass der in der modernen säkularen Apokalyptik beobachtete Lauf
der Dinge und ihr dort erwartetes Ende unrealistisch sei. Wogegen ich mich wende, ist der Fatalismus und
Determinismus, der apokalyptischen Geschichtssicht oft bestimmt. Erst einmal
ist die Fixierung auf ein Endereignis nicht zwingend. Dann: genausowenig
wie optimistische Prognosen sicher sind, müssen pessimistische Voraussagen
zwangsläufig eintreffen. Es ist nicht ausgemacht, dass die Bemühungen,
apokalyptisch erscheinenden Entwicklungen Einhalt zu gebieten, erfolglos sein
werden und Geschichte keinen Raum mehr für – vielleicht unerwartete -
Änderungen und Wendungen bietet. Es sind auch andere Szenarien für ein "Ende" denkbar als sie moderne Apokalyptiker erwarten. In der jüdisch-christlichen Tradition gibt es nicht nur die apokalyptische Sicht auf die Geschichte, sondern auch andere Visionen, die politisch relevant wurden (Jesaja 2,4; 11, 6–9: "Schwerter zu Pflugscharen"). Dantes Spruch über den Eingang zum „Inferno“ „Lasst alle Hoffnung fahren“ ist nicht die einzig mögliche Haltung gegenüber den zerstörerischen Tendenzen unserer Epoche. Apokalyptik kann die Wahrnehmung der Realität und darin liegender Möglichkeiten verzerren und Engagement für lebenswerte Verhältnisse und eine bessere Zukunft lähmen. Kritisch muss auch die geheime Option für die Katastrophe bedacht werden, die apokalyptischem Denken zugrunde liegen kann, sei es dass die „Apokalypse als Hoffnung“ betrachtet wird (Läuterung der Menschheit und Neugestaltung der Welt) oder nur, dass der Apokalyptiker mit seinen Prognosen recht behalten will. Das wäre eine Art von „selfdestroying prophecy“. Vielleicht braucht der heutige Mensch die alten apokalyptischen Symbole und Bilder, um seine Ängste artikulieren zu können – und auch um Heilungs- und Hoffnungsperspektiven in einer kranken und bedrohten Welt entwickeln zu können. Die Angst wahrzunehmen, auszuhalten und zur Sprache zu bringen, ist der erste Schritt für die Abkehr von einer Lebensweise, mit der Menschen auf die Dauer sich selbst und ihre Lebensgrundlagen zerstören. Dies ist auch die notwendige Voraussetzung dafür, dass einer Politik die Unterstützung entzogen wird, die die destruktive Weise unseres Lebens und Produzierens im großen Stil organisiert und in Gang halten will. Mit der Apokalyptik muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir in einer „Frist“ leben, die jederzeit zuende gehen kann, es also ein "Zu-Spät" gibt. Dies ist im übrigen nicht nur die Situation unserer Zeit, sondern unseres Lebens überhaupt. Immer stehen wir vor der Aufgabe unsere Chancen und Möglichkeiten zu erkennen und zu ergreifen, immer sind wir von Unsicherheit, Scheitern und dem Ende unseres Lebens bedroht; Gelingen gibt es nur unter diesen Bedingungen. Liegt uns daran, diesen Planeten als lebenswerten Raum und für ein humanes Dasein zu bewahren, so kann es nicht die Aufgabe sein, uns mit apokalyptischen Desastern oder einer Endkatastrophe abzufinden. Es gilt vielmehr sie aufzuhalten und zu verhindern. Wir sind also– um mit G. Anders zu reden – „da wir an die Möglichkeit des ´Zeitendes` glauben … Apokalyptiker, aber da wir die von uns selbst gemachte Apokalype bekämpfen, sind wir – diesen Typ hat es zuvor nicht gegeben – Apokalypse-Feinde.“ (15) Der Theologe der "Bekennenden Kirche" Dietrich Bonhoeffer schreibt 1942/43 – in einer wahrhaft apokalyptischen Situation: „Mag sein, dass der jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“ (16) Gibt es Auswege aus den globalen Krisen?Bei all dem, was wir hier in den Blick nehmen, ist es schwer verständlich, warum sich so viele Betroffene nicht gegen diejenigen und ihre Systeme wenden, die Weltzerstörung und Menschenvernichtung organisieren, ebenso, dass so viele nicht sehen, dass nur gemeinsames Bemühen das Überleben der Menschheit in einer lebenswerten Welt sichern kann. Ist es überhaupt möglich, dass die Menschheit überlebt, was ja von manchen heutigen Apokalyptikern bestritten wird? Ich habe diese Frage – „Wird die Menschheit überleben?“ - interessehalber einem modernen „Orakel“ gestellt, dem vielwissenden Bot von ChatGPT. Das Fazit der Antwort lautete: „Letztlich hängt das Überleben der Menschheit von der Fähigkeit ab, kluge Entscheidungen zu treffen, technologische Innovationen verantwortungsvoll zu nutzen und globale Zusammenarbeit zu fördern. Die Herausforderungen sind groß, aber mit den richtigen Maßnahmen und einer kollektiven Anstrengung könnte die Menschheit langfristig überleben.“ Wie wollen, sollen Menschen leben? Doch wohl alle mit ausreichenden materiellen Ressourcen, in Frieden, Zufriedenheit und Würde! Darin wird die Mehrheit der Menschheit übereinstimmen. Aber warum gelingt es nicht. dies nicht nur für eine Minderheit - von denen ein Teil mehr als die ausreichenden Mittel beansprucht - sondern für alle Menschen herzustellen? Reichen die Ressourcen nicht? Ich habe auch diese Frage dem Bot von ChatGPT gestellt: „Können alle Menschen mit ausreichenden materiellen Ressourcen, in Frieden, Zufriedenheit und Würde leben?“ Die Zusammenfassung der Antwort war: „Theoretisch ist es möglich, dass alle Menschen mit ausreichenden materiellen Ressourcen in Frieden, Zufriedenheit und Würde leben. Praktisch erfordert dies jedoch tiefgreifende Veränderungen auf individueller, gesellschaftlicher und globaler Ebene. Es erfordert den politischen Willen, soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten zu bekämpfen, Menschenrechte zu respektieren und globale Herausforderungen wie den Klimawandel anzugehen.“ Ich möchte Entscheidungen über menschliche Grundfragen nicht einem technischen Produkt überlassen. Auch wenn KI über eine immense Datenmenge und komplexe Verknüpfungsstrukturen verfügt, mit denen sie unsere Anfragen verarbeitet - ich kann nicht überprüfen, wie verlässlich und relevant die Daten sind. Menschliche Verantwortung sollte KI nicht ersetzen. Eine als verlässlich erprobte KI kann aber (kritisch zu behandelnde) Orientierungshilfen bieten. Nach den dem Programm von ChatGPT verfügbaren Daten wäre also ein zufriedenstellendes Leben für alle Menschen grundsätzlich möglich - wenn … Die Antworten von ChatGPT sind durchaus intelligent. Aber eigentlich bräuchte man
künstliche Intelligenz nicht, um solche ihr gestellten Fragen zu beantworten. Jeder vernünftige
und gut informierte Mensch könnte das auch ohne ChatGPT - und dies auch noch differenzierter. Unter Gesichtspunkten der Vernunft, Ethik und des langfristig gesehenen Eigeninteresses von Ländern/Gesellschaften ist es absolut notwendig, dass die politischen, wirtschaftlichen, religiösen Führer der wichtigsten Staaten und ihre einsichtigen Bürger ihre Diskrepanzen überwinden und in einem Anti-Apokalypse- und Überlebens-Pakt an der Lösung der großen globalen Probleme gemeinsam und wirksam arbeiten: - zur Durchsetzung des Weltfriedens, - zur Beseitigung der materiellen und sozialen Notlagen, - zum Umbau der Wirtschaft zu ressourcen-, klimaschonendem, nachhaltigem und kooperativem Wirtschaften, - zur Einhaltung von humanitären Mindestrechten, - zur Überwindung von Unwissenheit, Fanatismus, Spaltung, Hetze … Es ist traurig und unsinnig, dass dies nur in Ansätzen gelingt. Die 2015 verabschiedete Agenda 2030 der Vereinten Nationen mit
ihren Zielen zur nachhaltigen Entwicklung gilt für alle Länder, aber die Ziele
werden nur schleppend verwirklicht, einzelne Länder – so eine Gruppe um Russland
- blockieren, andere priorisieren Schlüsselziele nicht, wie die USA, die das für
das Ziel „Frieden“ nicht tun. Alle haben ihre Gründe, an denen sie festhalten. Der Effekt ist Stagnation in einer notwendigen Entwicklung. Dabei könnten - um einen Bereich zu nennen - die durch internationale Friedensabkommen freiwerdenden immensen Rüstungsausgaben für Projekte verwendet werden, die menschliches „Wohlbefinden“ in aller Welt fördern und so Ursachen für Konflikte, Instabilität und Migrationsbewegungen beseitigen. Ein anderer Bereich: Berechnungen zeigen, dass bei Änderung der
Nahrungsmittelproduktion, der landwirtschaftlichen Methoden (jeweils mit
Verzicht auf Giftstoffe) und des Essverhaltens 10 Milliarden Menschen innerhalb
der Belastungsgrenzen unseres Planeten gesund und ausreichend ernährt werden
können. (Potsdam- Institut für Klimafolgenforschung).
Auch Individuell können wir durch einen „nachhaltigen“, "suffizienten", weniger aufwändigen Lebensstil dazu beitragen, dass die natürlichen Ressourcen auch für nachfolgende Generationen ausreichen und Menschen in ärmeren Ländern faire Lebensbedingungen bekommen. Wenn wir allerdings nicht dafür sorgen, dass sich Politik und Wirtschaft darum bemühen, ist das zwar nicht sinnlos, genügt aber nicht, um die notwendigen Änderungen herbeizuführen. Nachhaltig leben - mysticartdesign-21. Quelle: pixabay Gegen die hier vorgebrachten Argumente mag eingewendet werden, dass "gut gemeinte Appelle wenig nützen", Menschen "seien nun einmal so": zu großen Teilen lernunwillig, selbstsüchtig, selten vernünftig, nicht verantwortungsbewusst, nicht sozial ausgerichtet. Führende Politiker seien in erster Linie an der Erhaltung ihrer Macht interessiert, weniger am Gemeinwohl, wenn, dann an nationalen Vorteilen und nur wenig am Wohl der Menschheit, Parlamentarier seien meist zu abhängig oder untereinander zu uneins, um tiefgreifende Änderungen in progressivem Sinne am bestehenden System in Gang zu bringen. In der Gesamtheit sei die Menschheit offenbar evolutionär nicht an die heutigen Umstände angepasst, womöglich eine "Fehlentwicklung" der Natur oder ein gescheitertes Experiment Gottes, das verdiene beendet zu werden, nachdem die Menscheit ihre Chancen vertan hat. Vielleicht trifft das im Einzelnen oder im Gesamten zu. Aber sollen, können, müssen wir uns damit zufrieden geben? Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, Fakt ist, wir stehen vor der Wahl, jeder einzelne, jede Gruppe, jedes Unternehmen, jede Nation, jede Regierung: welche Welt wollen wir haben, für uns und unsere Nachkommen? „Life and business as usual“ mit apokalyptisch-dystopischen Folgen? Oder (beharrliche) Arbeit „for better life in a friendly, fair and sustainable world“? Es könnte sein, dass die Menschheit und die für sie notwendigen Lebensgrundlagen auf die Dauer nicht mehr zu retten sind, dass es bereits zu spät dafür ist oder ein Zu-Spät noch kommt. Hat es eine
höhere Macht beschlossen oder liegt es im Programm einer dem Kosmos
innewohnende Matrix, das Experiment Menschheit zu beenden und der
Selbstzerstörung der Menschheit ihren Lauf zu lassen? Schließlich ist im Programm eines jeden Lebewesens das Ende eingezeichnet; warum sollte das nicht mit der Menschheit und der Erde so sein? So ganz abwegig sind diese apokalyptischen Spekulationen nicht, wenn man den rasanten Fortschritt der Destruktion menschlicher Lebensverhältnisse und der Störungen im Naturgeschehen beobachtet. Immerhin vertrat auch ein so berühmter Naturwissenschaftler wie Stephen Hawkin die Auffassung, dass das Ende der Menschheit auf der Erde bald gekommen sei. ["Kurze Antwort auf große Fragen" (2018), Kap. 7] Ob seine Empfehlung einer Flucht ins Weltall eine glückliche Lösung für das Überleben der Menschheit ist, bezweifle ich. Wenn überhaupt möglich, würden von dem Unternehmen nur wenige profitieren und es wäre auch nur eine Verschiebung der irdischen Probleme ins Außerirdische. Ich würde lieber die dafür aufzuwendenden Forschungen und Mittel für die Verbesserung der Lebensverhältnisse auf der Erde einsetzen wollen. Sollte es, wie befürchtet werden kann, so sein - ich hoffe, das ist nicht der Fall - dann hat es trotzdem seinen eigenen Sinn, sich um die Bewahrung der Menschheit in einer lebenswerten Welt zu bemühen. "So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen" - dieses Motto, das von Luther stammen könnte, aber erst 1944 in einem Rundbrief der "Bekennenden Kirche" in Hessen erstmalig nachgewiesen wurde, kann nach wie vor wegweisend in apokalyptisch erscheinenden Zeiten sein.
Sieger Köder, Das Gesicht des Friedens. Es gibt in der Bibel nicht nur die apokalyptische Sicht auf die Geschichte. Der Maler nimmt hier andere jüdisch-christliche Visionen auf. Der Prophet Jesaija schaut über die Waffen- und Kriegstrümmer hinaus auf ein Reich des Friedens (Jes. 2,4; 11,6-9). Quelle: Verlagsgruppe Patmos. Zitatnachweise:(1) H. v. Bingen, Der Mensch in der Verantwortung, übersetzt von H. Schipperges, 2. Auflage, Salzburg 1985, S. 133 Wolfram Janzen, „ … erschloß sich mir der Sinn der Schriften.“ Die Wirklichkeit anders sehen, Hildegard von Bingen, in: Religion heute 2/Juni 1990, S. 89 (2) Science 23.12.1983, 222/4630 pp.1283-1292 und pp. 1293-1300 (3) Wolfram
Janzen: Ein Zwischenresümee zum Corona-Infektionsgeschehen, Krisenmanagement und zur politischen Ethik, (Post in Corona-Blog) (4) Schipperges, a.a.O., S. 146 f. (5) Hildegard von Bingen, Scivias, übersetzt und herausgegeben von W. Storch, Augsburg 1990, S. 581 (6) Ulrich Bröckling, Untergang als Argument, Politiken der Apokalypse, Soziopolis, 13/09/2023 (7) Ich habe das Thema breits 1987 unter theologischen und seelsorgerlichen Gesichtspunkten erörtert: W. Janzen, Im Zeichen der Apokalypse – Endzeitdenken als praktisch-theologische Herausforderung, in der Monatsschrift: Wege zum Menschen, 39. Jg., Heft 8, Nov./Dez. 1987, SS. 466 – 483. Auch in meinem Roman: Wolfram Janzen, „La Arqueta“, Norderstedt 2019, ISBN 9783741225703, spielt das Thema eine Rolle. (8) Hoimar von Ditfurth, So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist soweit, Hamburg 1985 (9) Scivias, a. a. O., S. 587 (10) G. Anders, Die atomare Drohung, 5. Auflage., München 1986, IX, S. 207 (11) P. Sloterdijk, Wieviel Katastrophe braucht der Mensch? In: Psychologie heute, 13 (1986), Heft 10, S. 30 (12) Lexikon der Nachhaltigkeit, Warum Wachstum problematisch ist (13) Wolfram Janzen, Psychogramm der Corona-Gesellschaft, Telepolis 11/12/2021 (14) Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1985, IV. Teil, S. 545 (15) Anders a. a. O., S. 94 (16) D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, herausgegeben von E. Bethge, 8. Auflage, Hamburg 1974, S. 23 f. (17) Ernst Bloch, Literarische Aufsätze, Frankfurt/M. 1977, S. 391
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