"Ich mach´ mir die Welt, wie sie mir gefällt" - Das Pippi-Langstrumpf-Syndrom greift um sich / Über Narzissten, Reichsbürger, Selbstverwalter und andere Realitäts-Leugner

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Erinnern Sie sich an Pippi Langstrumpf? 

Wenn Sie zu meiner Generation gehören und Vater oder Mutter sind, dann haben Sie sicher auch Ihren Kindern aus den entsprechenden Büchern von Astrid Lindström vorgelesen oder mit ihnen die Fernsehserie über die freche Göre angeschaut. Dann erinnern Sie sich auch an den Titelsong der Serie: "Hey, Pippi Langstrumpf ..."

 
Zwei mal drei macht vier,
widewidewitt und drei macht neune,
ich mach mir die Welt,
widewide wie sie mir gefällt. 

Wahrscheinlich war Ihre Tochter ein Fan des unkonventionellen Mädchens, "die macht, was ihr gefällt". Sie lebt frei und ungebunden in der "Villa Kunterbunt", ist außerordentlich stark und erzählt gerne phantasievolle Geschichten. Sie widersetzt sich erfolgreich allen Autoritäten, verhält sich selbst aber recht autoritär ihren angepassten Freunden Annika und Tommy gegenüber. Vielleicht sahen auch Sie in Pippi ein Vorbild für Ihr Kind und für sich ein Erziehungideal: so emanzipiert sollte ihre Tochter auch sein oder werden. Es war ja schließlich die Zeit der "antiautoritären Erziehung".

Das erste Buch über Pippi hat Astrid Lindgren 1945 veröffentlicht und es wurde angesichts der Diktatur Hitlers geschrieben, zudem in einer Zeit, in der festlag, wie Frauen und Kinder sich zu verhalten hatten. 1971 wurde das Buch in Deutschland veröffentlicht und kam gerade recht, um den libertären Erziehungsidealen der 68-Generation zu entsprechen.

Denken Sie heute noch, Kinder sollten so erzogen werden? Wohl kaum. Wir erleben die Folgen. Eine Kindertherapeutin, mit der meine Frau in einer Beratungspraxis zusammenarbeitete, hatte später Kinder vor sich, die im "Laissez-faire"-Stil erzogen worden waren ("Lass´dem Kind seinen Willen" - man verwechselte das Konzept der antiautoritären Erziehung mit Laissez-faire-Erziehung). Sie meinte:  

"Wenn diese Kinder einmal Jugendliche und Erwachsene sind, wird die Gesellschaft große Probleme bekommen. Wir ziehen Bomben heran."

Narzissten unter uns

Eine Erziehung, die Kinder weitgehend gewähren läßt und ihnen möglichst alle Wünsche erfüllt, erzeugt nicht nur krasse Indvidualisten, die sich in den Mittelpunkt stellen, sondern auch Narzissten, deren größte Freude darin besteht, sich selbst zu bespiegeln. Sie erinnern sich: Narziss ist in der griechischen Mythologie ein schöner Jüngling, der die Liebe anderer zurückweist und sich in sein Spiegelbild verliebt.

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Michelangelo Caravaggio (1594-96): Narziss (Quelle: wikimedia commons)

Man hat schon oft darauf hingewiesen, dass wir heutzutage von Menschen mit narzistischem Verhalten umgeben sind. (Allerdings - will ich hier ergänzen - begünstigt nicht nur der von mir beschriebene Erziehungstil Narzissmus, sondern auch das Gegenteil: eine vernachlässigende, ablehnende Haltung dem Kinde gegenüber.) Narzisstische Züge hat wohl jeder von uns, da nehme ich mich nicht aus. Aber nie gab es so viele Menschen, die sich selbst überhöhen, die Kritik von außen nicht an sich heranlassen und sich nicht um die Ansprüche der Gesellschaft kümmern. (Hierzu das Selbstbekenntnis eines Narzissten: "Zeit Online" 07/04/19 - "Wie es wirklich ist ... ein Narzisst zu sein". Den Artikel darf ich aus rechtlichen Gründen nicht verlinken.) Da wird die Selbstliebe zu einem Persönlichkeitsdefekt, obwohl diese Menschen das überhaupt nicht empfinden. Unrecht haben in ihren Augen immer die anderen. Eine solche Persönlichkeitsstruktur hat nicht nur für die eigene Person ungünstige Auswirkungen, sondern auch für das soziale Umfeld und - wenn sich das Phänomen häuft - für die ganze Gesellschaft.

So krass muss das nicht immer sein. Nicht wenige Schauspieler, Schlagersänger und Show-Master präsentieren sich als offensichtliche Narzissten. Aus der Nähe betrachtet sind sie vielleicht ganz normale Menschen, aber durch die ihnen von Marketing, Medien und Publikum zugetragene Prominenz werden sie maßlos aufgewertet. Dass dies leicht zu einem aufgeblähten Selbstbild und überzogener Selbstdarstellung verführt, ist ersichtlich. Bei ihren Bewunderen kann das ansteckend sein, gesamtgesellschaftlich muss sich das nicht destruktiv auswirken. Das ist erst dann der Fall, wenn Künstler ihre Prominenz benutzen, um obskure Behauptungen und Ansichten zu verbreiten. 

Wegen rechtlicher Bedenken habe ich hier den Namen eines von mir früher geschätzten Pop-Sängers entfernt, ebenso den Verweis auf eine unter seinem Namen und Bild - "inoffiziell" - laufende Seite des Messenger-Dienstes "Telegram", in die Nutzer krude Beiträge einstellen.

Diese Überschätzung an sich nicht außergewöhnlicher Menschen mag wohl für Kulturkritiker ärgerlich sein, kann aber als Zeiterscheinung und Ausdruck unserer von der "Kulturindustrie" beherrschten Gesellschaft hingenommen werden. 

Social Media - Partizipation des mündigen Bürgers oder Plattform für Selbstdarstellung, Unterhaltung und Kommerz?

Wie narzisstisch nicht nur Prominente, sondern auch "Normalos" geprägt sind, offenbaren die Social Media. Wieviele tummeln sich da, die meinen, ihre privaten Besonderheiten und oft begrenzten Ansichten aller Welt mitteilen zu müssen. Auch das ist eine Art der "Selbstbespiegelung". Sie verlangt zunächst nicht viel mehr, als einen Computer oder ein Smartphon zu bedienen und seine eigene Welt (-sicht) mehr oder weniger gekonnt in ein vorgefertigtes Programm einzutippen oder Bilder und Videos einzusetzen. Wer Glück hat oder einen "Nerv" der Zeit trifft, findet viele "Follower" und damit auch "Sponsoren". Frau/man(n) darf sich dann "Influencer/in" nennen. Klar, auch mein Blog gehört zu diesem Genre, obwohl ich auf Kommerzialisierung verzichte, mit der die Seiten in der Regel verbunden sind. Sicher, da gibt es auch die sogenannten Sinn-Influencer, Autoren, die ihre Stimmen in kritischen und fundierten Beiträgen für gesellschaftsrelevante Themen und Vorhaben wie soziale Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit einsetzen. Aber die Mehrzahl der Angebote ist angesichts der Herausforderungen unserer Welt und unseres Lebens belanglos. Mit dem Alltag ihrer Follower haben die Auftritte der erfolgreichen "Beeinflusser/innen" meist wenig zu tun.

Am Anfang beabsichtigen die Macher/innen Selbstdarstellung und Unterhaltung - was ja an sich o.k. ist. Da werden endlose Reihen von Bildern, etwa auf Instagram, eingestellt. Sie zeigen Autorinnen von der Morgentoilette bis zum Zubettgehen, im Sportstudio, am Strand, modisch aufgemacht, oft knapp bekleidet, je nach Zielgruppe jung oder reifer, mit Model-Figuren oder selbstbewußt füllig, tanzend, singend, gute Laune austrahlend, mit flotten Sprüchen und aufmunternden Anreden als Beigabe. Bei Männern sehen die "Accounts" natürlich etwas anders aus. Sie sind auf ihre Weise smart, selbstverständlich sportlich und sie werden oft als Familienväter mit Partnerin und Kindern gezeigt. So werden diese anscheinend glücklichen und erfolgreichen Menschen zu Vorbildern.

Mit zunehmendem Erfolg werden die Auftritte professioneller und zu Geschäftsunternehmen. Die Seiten werden von Sponsoren für Werbung und Marketing instrumentalisiert und bringen den Machern Gewinne ein. Mehr oder weniger offensichtlich ist nun das Ziel, Usern Produkte, Marken und Services nahe zu bringen und sie selbst zu Botschaftern der Produkte zu machen. Unausgesprochene "Message": "Schaut her, wie chic und glücklich wir mit diesen Kleidungsstücken und Accessoirs sind, oder wie gut uns dieses oder jenes Dienstleistungsunternehmen tut." 

Ich nehme an, meine Leser gehören nicht gerade zu den häufigen Besuchern solcher Accounts. Wenn Sie sich ein Bild machen wollen, dann schauen Sie sich einmal die  "Contents" der erfolgreichsten deutschen Influencer an. Als kleinen und instruktiven Einblick in diese Szene greife ich die Kurzbeschreibung der Karriere einer attraktiven und sehr erfolgreichen Influencerin heraus. (Ich zitiere aus der oben verlinkten Website - auch hier habe ich Name und Bild entfernt.)

[Ein] deutsch-philipinische[s] Model und Schauspielerin ist besonders durch ihren Gewinn bei der Wahl zur Miss Universe zu einer internationalen Bekanntheit geworden. Auf Instagram drehen sich die Beiträge der 30-jährigen rund um Beauty, Fashion und Lifestyle. Werbepartner der Mode- und Kosmetikindustrie bestimmen die Beiträge auf ihrem Profil. Mit diesem Content erreicht sie circa 11,3 Millionen Follower und gilt somit als eine der erfolgreichsten Influencer in der Branche. 

Man mag es bedauern, dass die oft sympathischen, manchmal auch kreativen, auf jeden Fall geschäftstüchtigen Influencer zu Vorbildern avancieren, an denen sich so viele orientieren. Aber wo gibt es in unserer auf Einfluss und Gewinn, äußeren Erfolg und Glanz, Spaß und Unterhaltung, Statussymbolen und Konsum programmierten Gesellschaft in Wirtschaft, Politik und Geistesleben Vorbilder anderer Art, überzeugend, integer, anderen Werten verpflichtet? Sie sind selten, und nicht immer machen sie viel Aufhebens von sich. Auch dies ist eine "Zeitwahrnehmung"!

Exkurs: Missbrauch der Social Media

In den Anfangszeiten des Internets und der Social Media hat man gehofft, dass diese Technologien zur Partizipation, konstruktiven Kommunikation und Aufklärung des Bürgers beitragen. Positiv zu vermerken ist, dass das in vielen Websites und auch in Facebook- oder anderen Social-Media-Konten nach wie vor - und gerade jetzt in den Corona-Zeiten wieder - der Fall ist.

Aber nicht jeder ist ein "mündiger Bürger", ausgestattet mit Kritikfähigkeit, Selbstreflexion, zureichenden Kenntnissen, Anstand und gesundem Menschenverstand. Mittels der Social Media erhalten nun auch diejenigen eine Stimme und Gelegenheit zur "Selbstdarstellung", denen es an all dem oder einzelnem mangelt. Es erschreckt mich, was da in Social-Media-Beiträgen an üblen Beschimpfungen, hasserfüllten Drohungen, Ignoranz, Unlogik und Abstrusität zu Tage tritt, von mangelnder Beherrschung der Rechtschreibung und Sprache gar nicht zu reden. In meinem eigenen Familienkreis sind Personen von Hetze und Morddrohungen betroffen. Hinzu kommt, dass diese Äußerungen weitgehend gefahrlos geschehen, weil man sich ja hinter einem Decknamen verstecken kann. Schlimm ist auch, dass selbst unflätige Beschimpfungen und krasse Verleumdungen Beifall finden - so erhält der Urheber die Bestätigung, dass er sich nicht alleine in "schlechter Gesellschaft " befindet. 

Damit man mich nicht mißversteht, ich prangere hier nicht Menschen an, die wie wir alle nicht perfekt sind und die vielleicht durch ungünstige soziale und biographische Umstände oder einfach durch "Frust" über sie enttäuschende Zustände veranlaßt werden, zu unangemessenen Reaktionen zu greifen. Aber Verständnis haben, heißt nicht, dass ich alles entschuldigen oder tolerieren muss. Wogegen ich mich wende, sind Verhaltensweisen, die mir im gesellschaftlichen Verkehr nicht akzeptabel und nicht nötig erscheinen. Es ist auch nicht menschenfreundlich, wenn ich Ansichten oder Ideen toleriere, die ich als inhuman, unvernünftig, persönlichkeitsschädigend oder sozialschädlich erkenne. Tue ich das,  erweise ich ihren Vertretern und anderen Mitmenschen keinen guten Dienst.

Es ist dringend an der Zeit, Auswüchse der geschilderten Art in den Social Media zu unterbinden! Meinungsfreiheit hat da ihre Grenze, wo die ethisch und auch grundgesetzlich geforderte Würde des Menschen, auch des Gegners, nicht mehr respektiert wird oder auch wo offentlichtliche Lügen verbreitet werden. Diese Art von destruktiver Partizipation am gesellschaftlichen Geschehen ist zwar aufschlussreich, weil sie offenbar macht, wie eine vielleicht nicht unbeträchtliche Minderheit der Bürger fühlt und denkt. Beunruhigend ist aber der Gedanke, diese Minderheit könnte so zu Macht und Einfluss kommen, dass sie die Mehrheit derjenigen dominiert, die nicht mit ihr übereinstimmt. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass rechtsextreme "Trolle" im Internet eine gut vernetzte und lautstarke, aber kleine Hass- und "Fake-Sturmtruppe" bilden , "die mit mehr als unfairen Mitteln kämpft". Das schließt nicht aus, dass sie in der Tendenz das wiedergeben, was auch zahlenmäßig größere Kreise und Bevölkerungsteile vertreten oder  - vielleicht insgeheim - denken. 

Zur Erinnerung - Grundgesetz Art. 18:

Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit ... die Versammlungsfreiheit ... zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte.

Wer ist der prominenteste Narzisst der Gegenwart?

Und nun ein "Rätsel". Wer ist der prominenteste Narzisst unserer Gegenwart? Sie haben es erraten.

Es ist schwer zu fassen, was sich der Mann an Selbstbeweihräucherung, Faktenauslassungen und nachweisbaren Lügen geleistet hat. Ein Beispiel ist seine Rede auf der Pressekonferenz am 13.11.20 in Washington. Ich habe sie in einem Nachrichten-Fernsehsender ganz und im Originalton mitverfolgt. In der Rede stilisierte der Präsident sich und seine vereinigten Staaten als Weltspitze in der Bekämpfung des Corona-Virus (unbeachtlich der Tatsache, dass sein Land weltweit an der Spitze der durch Covid-19 verursachten Todesfälle steht). Und nun sei der von ihm versprochene Durchbruch erreicht - mit der Entwicklung eines Impfstoffes, den er in Bälde kostenlos allen Bürgern zu Verfügung stellen werde. Mit keinem Wort erwähnt er, dass der Impfstoff, auf den er sich bezieht, von einem deutschen Labor mit deutschem Geld entwickelt wurde. Nach der Konferenz verließ der Präsident den Raum, ohne dass Nachfragen möglich waren. Trotzdem erscholl im Hintergrund Beifall und Jubel. 

"Merkt euch, was ihr [sonst] seht und lest, passiert nicht wirklich. Haltet euch einfach an uns." So seine Worte 2018 in Kansas City vor Kriegs-Veteranen in Hinsicht auf die Ökonomie der Vereinigten Staaten. Wenn Journalisten Gegenläufiges berichten, dann ist das "Crap", "Mist", und: "it´s called fake news" - wir nennen das "Falsch-Nachrichten".

"Just remember: What you're seeing and what you're reading is not what's happening" ... “just stick with us."

(BBC News 25.07.2018 und "The Hill" 24.07.2018)

Das alles hat ihm bei seinen Anhängern keinen Abbruch getan - im Gegenteil, sie nehmen ihm die - zugegebenermaßen charismatisch und rhetorisch geschickt vorgetragenen - Faktenleugnungen und Unwahrheiten ab und machen sie sich zu eigen - so wie er ihnen das empfiehlt.

Und jetzt sind wir beim "Pippi-Langstrumpf-Syndrom": "Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt."

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Nun, wir sind schon lange dabei, doch jetzt will ich das Phänomen näher beleuchten. Die satirische Wiki-Imitation "Stupipedia" beschreibt die Kennzeichen des Syndroms (PPLS) in ironischer, teilweise übertriebener Weise, aber in den Grundzügen durchaus zutreffend:

PPLS stellt einen psycho-pathologischen Zustand des Geistes [dar], der durch Realitäts- und Identitätsverlust bei gleichzeitigem Erfinden einer Phantasie-Identität und Scheinwelt gekennzeichnet ist ...
Was beim Kind und Jugendlichen als normale Entwicklungsstufe gilt [Allmachtsgefühle in der frükindlichen "magischen Phase" und in der Pubertät, in der sich das Kind / der Jugendliche als Bestimmer und Mittelpunkt der Welt erlebt], muss beim Erwachsenen als krankhafter Realitätsverlust betrachtet werden, sofern ein Fall von schwerer Dummheit auszuschließen ist ...  

[Anmerkung: Hervorhebung und Ergänzung im Zitat von mir. Die hier wohl dem satiririschen Charakter des Artikels zuzuschreibende generalisierende Anwendung der Bezeichnungen "psycho-pathologisch" und "krankhaft" halte ich - bis auf Extremfälle - für überzogen.]

Symptome

Die Symptome des PPL-Syndroms sind nicht immer einfach zu erkennen, da die Betroffenen sich teilweise auf reale Fakten beziehen, ihre Äußerungen mit heiligem Ernst und in tiefster Überzeugung vortragen und es dem Zuhörer oftmals nicht möglich ist, das Behauptete an Ort und Stelle zu überprüfen. Ist der PPLS-Betroffene mit einer passablen Bildung ausgestattet, wird er diese zur Ausschmückung seiner Geschichten einsetzen und sein Publikum mit Pseudo-Fakten beeindrucken.

Euphemisieren

Der PPLS-Betroffene neigt zu maßlosen Übertreibungen, zum Schönreden und unverhältnismäßigem Lob ...

Lügenmärchen und Heldensagen 

Das erfinden von Lügenmärchen und Heldensagen ... mit der eigenen Person als Hauptdarsteller ist ein weiteres typisches Symptom von PPLS. Meist enthalten die Stories einige reale Fakten, Orte, Personen usw., um die herum der PPLS-Betroffene seine Geschichte phantasiert ... 

Mit Pseudowissen prahlen

PPLS-Betroffene entwickeln ein instinktives Gespür dafür, was ihre Zuhörer wissen können und was nicht. So finden sie geeignete Ansatzpunkte für das Verbreiten von Pseudowissen ... Der PPLS-Betroffene jongliert mit Zahlen und Statistiken, die sich nach Insiderwissen anhören und ihn als Experten erscheinen lassen. Er erfindet Definitionen und gibt Meinungen und Zitate bedeutender Personen zum Besten, die er sich ausgedacht hat. 

Psychologisieren

Manche PPLS-Betroffene finden ihre Befriedigung im Psychologisieren. Sie geben ungefragt und meist ohne ausreichende Kenntnis sowohl der betreffenden Person als auch - und dies ist besonders problematisch – der Psychologie Einschätzungen, Urteile , Analysen und Vermutungen ab, die ihnen nicht zustehen, und spinnen sich so Zerrbilder von Personen ihres näheren und ferneren Umfeldes zusammen ...
Bei all diesen Erscheinungsformen von PPLS lügt der Erkrankte nicht oder spielt Emotionen vor, sondern er »macht« sich seine Welt, wie sie ihm gefällt, mit ihm als dem wissenden, könnenden und unverzichtbaren Helden im Mittelpunkt. In jedem Fall glaubt der Erkrankte felsenfest an die Richtigkeit seiner Äußerungen. Widerspruch ist in den meisten Fällen zwecklos ...

Sollten Sie sich selbst in diesem Psychogramm erkennen, dann sind Sie schon fast geheilt - denn Selbsterkenntnis ist auch hier der beste Weg zur Besserung. Wenn Ihnen nun sofort andere in ihrer Umgebung eingefallen sind, dann ist das allerdings kein sicheres Zeichen, dass Sie nicht doch vom PPL-Syndrom betroffen sind. Denn bei den von der Stupipedia beschriebenen Kennzeichen fehlt eines: beim PPLS-Kandidaten sind es immer die anderen, die nicht richtig ticken. Aber ich gehe davon aus, dass meine Leser nicht vom PPL-Syndrom befallen sind - sonst hätten Sie schon längst aufgehört zu lesen. Und gestehen wir uns das ruhig zu: ein klitzekleinwenig sind wir alle davon betroffen, wenigstens manchmal und in manchen Situationen. 

Vielleicht muss man zur Darstellung in der Stupidedia auch noch sagen, dass Narzissten zum PPL-Syndrom neigen; um wieder den prominentesten Fall zu nennen, beim dem erwähnten Präsidenten findet sich beides. Das muss aber nicht sein, PPLS-Befallene sind nicht immer Narzissten, ihre Motive können andere sein. Darauf werde ich noch zu sprechen kommen.

Der Prototyp eines PPLS-Kandidaten gilt übrigens der "Baron von Münchhausen" - Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen (1720-1797), genannt der "Lügenbaron". Ob die ihm zugeschriebenen Geschichten alle - und so wie sie überliefert sind - von ihm stammen, ist fraglich, sie wurden von einem anderen, einem zeitweiligen Gast des Freiherrn, unter dem Namen Münchhausens - zuerst in London - herausgegeben. Der Baron wird seine Geschichten auch wohl selber nicht geglaubt, sondern sie augenzwinkernd erzählt haben - er ist also kein echter PPLS-Typ, der von seinen Geschichten felsenfest überzeugt ist. 

Trotzdem: Ich neige dazu,  den dreihundertjährigen Geburtstag Münchhausens in diesem Jahr und die aus diesem Anlass herausgegebenen Sonderbriefmarke der Post als eine geheime "List der geschichtlichen Vernunft" (Hegel) zu betrachten.  


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Vielleicht wird das Jahr 2020 als Jahr der "Lügengeschichten" in die Geschichte  eingehen. Sie verstehen nicht, was ich meine? Nun, nie wurde das Wort "Lüge" so oft öffentlich plakatiert wie in diesem Jahr und nie wurden uns so viele Phantasiegeschichten (mit einem anderen Wort: "Verschwörungstheorien") aufgetischt. Könnte da uns nicht die "Vernunft" raten genau hinzusehen? (Merke: Das ist meine "Verschwörungstheorie", die ich den bereits umherlaufenden zufüge!)

Bei den "Lügengeschichten" Münchhausens  handelt es sich übrigens um eine alte literarische Gattung zu der auch die Pippi-Langstrumpf-Erzählungen gehören, wobei allerdings die Heldin selber von ihren unrealistischen Darstellungen überzeugt ist. Ein anderer berühmter literarischer PPLS - Held fällt mir noch ein: Don Quixote.

 

Rezept für einen PPLS-Zauberbrei (überliefert vom Freiherrn von Münchhausen und für heutigen Geschmack modernisiert) 🍆🍈🍋🍆🍄🍅🍡

Zutaten: 

Einige harte Fakten (nach Belieben)

Einige weiche Pseudo-Fakten (nach Belieben)

Einige Zitate von Koryphäen (nach Belieben)

Eine vorgegebene oder selbst erfundene phantastische Geschichte,, die möglichst nach geheimer Verschwörung riecht

Zubereitung:

Mische das Ganze gut durch und köchle das Gemisch bei leichter Flamme, bis es zu einem konsistenten Brei wird. Würze mit den Zitaten nach.

Verwendung:

Lade einige PPLS-Anwärter ein und setze ihnen das Gericht vor. Wenn es ihnen nicht schmeckt oder sie es schwer verdaulich finden, lass dich nicht beirren! Es sind Kochkunst-Banausen! Bestehe darauf, dass du ein guter Koch bist und der Brei vorzüglich ist! Es werden sich unter deinen Gästen immer Feinschmecker finden, die den Brei zu schätzen wissen. Sie werden erkennen, dass es ein magischer Brei ist, der die Augen für viele Geheimnisse öffnet. Nach dem Genuss sehen sie die Welt anders als bisher und bilden mit dir eine Gemeinschaft der PPLS-Brei-Eingeweihten. Der Brei läßt böse Mächte erkennen, macht widerstandsfähig gegen Angriffe der Banausen und schützt euch sogar vor Viren. Ihr solltet dieses Gericht zum Wohle der Menschheit verbreiten. Kocht es auf Markplätzen und demonstriert seine heilsame Wirkung.

                                                           

Das Pippi-Langstrumpf-Syndrom breitet sich aus

 
Karikatur: Klaus Stuttman - Quelle: www.seniorenportal.de

Es gab in allen Zeiten Menschen, die PPL-Symptome zeigen, doch heute scheint das eine verbreitete Erscheinung zu sein, ein "Zeitphänomen". PPLS und ihre Vertreter haben eine "lächerliche" Seite - das zeigen viele witzige Karikaturen zum Thema und dem oben erwähnten Präsidenten. Aber leider hat das Phänomen bei einem so mächtigen Mann gefährliche Auswirkungen. Das ist auch dann der Fall, wenn PPLS zu einer Massenerscheinung bei weniger Einflussreichen wird. Und den Eindruck hat man, wenn man die Vielzahl an Menschen auf den Anti-Corona-Demonstrationen beobachtet, die den Sars-CoV2-Virus und die von ihm ausgelöste Krankheit Covid-19 leugnen. Meist ist das auch noch mit einer Leugnung anderer Realitäten und dem Glauben an durch Faktenprüfung widerlegbare oder haltlose Erzählungen verbunden. (Ein krasses Beispiel hier!) Wer einen im Labor nachgewiesenen Virus und die von ihm ausgelöste, durch tausendfache Fallberichte mit teilweise tödlichem Ausgang belegte Krankheit leugnet, ist ein PPLS-Kandidat. Darüber kann man nicht mit einem Lächeln hinwegsehen. Weder die Leugnung des Virus und das daraus resultierende Verhalten, noch die damit verknüpften Geschichten sind harmlos wie die unterhaltsamen Phantasiegeschichten des "Lügenbarons" Münchhausen.

Über die Corona-Virus-Leugner habe ich in meinem letzten Post das Notwendige gesagt. Das PPL-Syndrom wird aber noch bei anderen in Deutschland augenfällig.  

"Reichsbürger" und "Selbstverwalter"

Sie werden von diesen Gruppierungen gehört haben. Dass Sie selbst ihnen nahe stehen nehme ich nicht an, obwohl - in meinem Bekanntenkreis finden sich einzelne, die wenigstens teilweise mit ihren Ideen sympathisieren (genauso wie es Corona-Leugner in meiner Bekanntschaft und Verwandschaft gibt). So abwegig scheint das nicht zu sein. Grund genug sich damit auseinanderzusetzen.

In der öffentlichen Meinung bringt man diejenigen, die als "Reichsbürger" bezeichnet werden, mit Gewalttätigkeiten in Verbindung. Eine latente Gewaltbereitschaft und ausgeübte Gewalttätigkeiten bei einigen Anhängern und Gruppen sind offensichtlich. Stellt man dies aber in den Vordergrund, lenkt das von dem Gedankengut und den Argumenten ab, die in den übrigens unterschiedlichen und miteinander konkurrierenden Gruppierungen vertreten werden. Ihr gedankliches Spektrum reicht von esoterisch bis völkisch, sozialistisch bis rechtsextrem. Und eben diese Inhalte es, die die Anziehungkraft ausmachen.

Was diese Gruppierungen eint, ist die Bestreitung der Legitimität des Staatsgebildes "Bundesrepublik Deutschland", mit dem alle offenbar unzufrieden sind. Nach ihnen ist das "Deutsche Reich" mit dem Sieg der Alliierten 1945 zwar zerschlagen, aber nie offiziell abgeschafft worden. Die Gesetze des Deutschen Reiches gelten also weiter. Wahlweise bezieht man sich auf das deutsche Kaiserreich oder das Deutsche Reich unter Hitler; einige Gruppierungen berufen sich auf die Verfassung der "Weimarer Republik". Manche vertreten auch, dass die DDR nie rechtmäßig aufgelöst wurde und deren Gesetze weiter existierten. Die Bundesrepublik Deutschland habe keine rechtsgültige Verfassung und Gesetze, stelle ein Verwaltungs- und Wirtschaftsgebilde dar, stünde nach wie vor unter dem nicht abgelösten Besatzungsrecht, sei nicht souverän und faktisch von den USA abhängig. Man bezeichnet die BRD als "GmbH". Folglich sieht man sich nicht als "Bürger" der BRD, sei ihren Gesetzen nicht verpflichtet, müsse den Bescheiden ihrer Ämter und den Anweisungen ihrer "Angestellten" nicht folgen. Stattdessen beansprucht man exterritoriale Räume, eigene Ausweise, Urkunden, Kfz-Kennzeichen, Ämter und Regierungen unter vermeintlich legitimen Verfassungen und Gesetzen. 

"königreich_deutschland" - reichsbuerger
Der "Oberste Souverän" des "Königreiches Deutschland", "König" Peter I. ( Peter Fitzek) 2017. Man beachte das "Alpha"- und "Omega"- Zeichen im Hintergrund. Rechts das Emblem seines "Königreiches. Quelle: Website Koenigreich Deutschland (hier: Mediathek)
Der in Wittenberg residierende "König" erhielt 2017 den Preis
"Goldenes Brett vorm Kopf" für den "erstaunlichsten pseudowissenschaftlichen Unfug" des Jahres im deutschsprachigen Raum. Wer über das Selbstverständnis Fitzeks und seiner Anhänger Auskunft sucht, möge deren Website besuchen.

Schild am Eingang des Restaurants H... M... in S... (Thüringen), dessen Betreiber offenbar Fitzek nahesteht. Zum Vergrößern anklicken!

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reichsbuerger_r._n._schittke

reichsbürger_.n._r._schittke
Das ist "Seine regierende Königliche Hoheit Fürst Norbert Rudolf Schittke ... Prinz zu Romkerhall des Hauses Hannover und zum Haus Windsor" ... und "Reichkanzler des Deutschen Reichs (Kaiserreich)".
 
Norbert Schittke, ein Rentner mit ehemaligem "Amtssitz" in Hildesheim, jetzt in der Nähe dieser Stadt wohnhaft, ist einer der frühesten "Reichsbürger".
Schittke gründete 2004 im Parkhotel Kronsberg mit Gesinnungsgenossen die "Exilregierung Deutsches Reich", zu deren "Reichskanzler" er gewählt wurde. 2012 wurde er wegen verschiedener Vergehen von der "Exilregierung" seines "Amtes" enthoben, nimmt es aber weiter für sich in Anspruch. Neben der üblichen "Reichsbürger"-Ideologie (Deutschland "eine Art alliiertes Geschäftsmodell") vertritt er ausgefallene Ansichten: er will Kontakt mit Außerirdischen ("Aldebaranern") haben, glaubt, dass im Inneren der Erde unbekannte Völker hausen und propagiert auch weniger harmlose Vermutungen. Außerdem sieht er sich wohl als Repräsentant eines Phantasie-Reiches, des "Königreiches Romkerhall", wie aus seinem Titel "Prinz zu Romkerhall" geschlossen werden kann. 

Romkerhall ist ein ca. 5000 m² großes, gemeindefreies Areal im Privatbesitz mit großem Gasthof. Es liegt im Okertal nahe Goslar. Einer geschichtlich nicht belegbaren Überlieferung nach hat dort der blinde König Georg V. von Hannover (1819-1878) 1861 ein Jagdschloss mit Gästehaus und den gegenüberliegenden Wasserfall (gespeist von der Romke) anlegen lassen. Die Verwaltung sei einem Gastwirt übergeben worden, der eine Trinkhalle einrichtete [daher der Name  "Romker-Hall(e)]. Der König habe das Areal seiner Gemahlin Marie von Sachsen-Anhalt geschenkt und es direkt dem hannoverschen Königshaus unterstellt. 

1988 erhielt das "Königreich Romkerhall" unter dem damaligen Besitzer, der als königlicher "Statthalter" bezeichnet wurde und sich "Baron zu Romkerhal" nannte, eine neue "Königin". Die inzwischen verstorbene "Erina von Sachsen", geborene Erna Eilers, "Glamour-Frau" und ehemalige Gemahlin Timos von Sachsen (Enkel Friedrich August III., des letzten Königs von Sachsen) wurde zur "Königin von Romkerhall" gekrönt. 2009 wurde der Gasthof - nach langen Rechtsstreitigkeiten -  von der Geschäftsführerin einer Werbe-, Veranstaltungs-, und Reiseagentur endgültig, mit "Siegel und Bann" der verstorbenen "Monarchin", übernommen - "Königin" Erina hatte sie zur "Fürstin S." erhoben. Das inzwischen wieder ziemlich verwahrlost aussehende Hotel mit historisierender Ausstattung und in wild-romantischer Umgebung liegend wird seitdem als 

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Emblem des heutigen "Königreiches Romkerhall"
vermarktet, mit eigener Nationalhymne, Währung (bezahlt wird aber mit Euros), "Ritterorden" und kostenpflichtiger Visumpflicht beim Betreten des Restaurants. 

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Oben und unten: Das heutige Hotel "Königreich Romkerhall"

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Das Hotel Romkerhall in früheren Zeiten - noch kein "Königreich"

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Ein ehemaliger Schweinestall auf dem Romkerhaller Gelände
Schittke erwarb 2010 von der Frau des "Barons" einen ehemaligen Schweinestall auf dem Gelände. Der Kauf wurde später gerichtlich annuliert. Offenbar hatten Schittke und seine Anhänger vor, hier den Sitz der "Exilregierung" zu installieren und ein "Deutsches Reichsgebiet" zu schaffen. Möglicherweise über die Verbindung mit dem "Statthalter-Baron" oder der "Königin" - die beide Adelstitel "verliehen" - kam er zu seinen Pseudo-Adels-Prädikaten. Vermutlich stand der "Baron" dahinter, wenn über die Website der "Exilregierung" die Verleihung von "Adelstiteln" gegen "Spenden" für "das Königreich Romkerhall im Deutschen Reich" in Aussicht gestellt wurde. Adelstitel sind übrigens seit Inkrafttreten der "Verfassung des Deutschen Reichs" 1919 (Weimarer Republik) nur noch Bestandteile des Namens und dürfen nicht mehr verliehen werden. (Art.109,2)

Die jetzigen Betreiber des Gasthofes wollen aber mit Schittke nichts zu tun haben. 

Bei dem Möchtegern-Fürsten und -Reichskanzler fühlt man sich wahrhaftig an Pippi-Langstrumpf, Don Quixote und den Hauptmann von Köpenick erinnert, alles Vertreter des PPL-Syndroms! Folgender Vorfall entbehrt nicht der Komik. 2013 war Schittke in einem Konvoi mit angeschaltetem Blaulicht und wehenden Reichsflaggen zu einer Trauerfeier unterwegs. An den Kennzeichen-Schildern war das D-Zeichen mit "DR" (=Deutsches Reich) auf schwarz-weiß-rotem Grund überklebt. Polizeibeamte hielten die Kolonne an. Schittke weist einen von der "Exilregierung" ausgestellten "Personenausweis" vor und auf die Vorhaltungen der Beamten fertigt er sie mit den Hinweisen ab, "Bedienstete der Firma Polizei" hätten ihm nichts zu sagen, als "rechtmäßiger Kanzler des Deutschen Reiches" müsse er "Straßen-Diener" nicht um Erlaubnis bitten. Doch harmlos ist so manches an den Ideen nicht, die der "merkwürdige, dennoch freundliche ältere Herr" (Goslarsche Zeitung 13.08.2010) vertritt. Der thüringische Verfassungsschutz stellte schon 2009 fest, dass die "Exilregierung" einen "gesellschaftlichen Resonanzboden für rechtsextremistisches Gedankengut" schaffe. (Verfassungsschutzbericht des Landes Thüringen 2009, S. 64) Die Saat ist inzwischen aufgegangen!   

Ohne Kommentar:
"exilregierung_deutsches_reich_beschluss

Aus: http://www.friedensvertrag.info / Beschluss vom 11.12.2020

Inzwischen gibt es in Deutschland (und auch anderswo) eine ganze Reihe von "Staaten", "Fürstentümern", "Königreichen" mit "amtierenden" oder "provisorischen" Regierungen. Deutschland hat wohl derzeit mehr als 30 "Reichskanzler"! Die "rechtlichen Grundlagen" dieser Gebilde werden von mehr oder weniger qualifizierten "Fachleuten" mit meist ellenlangen und verwickelten, rechtlich klingenden Argumentationsketten begründet. "Reichbürger" oder andere BRD-Leugner überziehen die realen Ämter und ihre Bediensteten, Justiz und Polizei mit Eingaben, Widersprüchen und Diskussionen, die mit ihren Rechtsauffassungen begründet werden. Gerät ein "Bürger" dieser (Schein-)"Staaten" in Konflikt mit den Behörden oder der Justiz des von ihm nicht anerkannten Staates, dann wird ihm die Hilfe von "Rechtskonsulenten" angeboten, juristischen Laien, was Geld kostet und natürlich vergeblich ist. 

Die Bundesrepublik Deutschland - kein rechtmäßiger Staat?

Intellektuelle "Reichsbürger" - die gibt es - oder solche, die ihren Thesen nahestehen konfrontieren ihre Gegenüber oft mit Argumenten, auf die sie mangels Spezialwissen nicht zu antworten wissen. Deshalb ist eine Analyse dieser Argumente wichtig.

Ich habe mich durch einen Wust von angeblich rechtlichen Begründungen, die von BRD-Leugnern angeboten werden, hindurch gefressen, will aber meinen Lesern ein Referat darüber ersparen. Die Ergebnisse meiner eigenen Recherche zu den Behauptungen haben ich in einen Anhang (unten) gestellt. 

Um es kurz zusammenzufassen: die Einlassungen der "Reichbürger" und "Selbstverwalter" gegen die Legitimität der BRD stützen sich auf einzelne Dokumente; andere Zeugnisse, die Entwicklung der BRD zur Souveränität und den Gesamtzusammenhang lassen sie außer acht. Auf´s Ganze gesehen stellen sich ihre Argumentationsreihen als Konstruktionen heraus, die sich nicht an den maßgeblichen Quellen und Umständen verifizieren lassen - oder sich an diesen als falsch erweisen. Die "Erzählungen" von der angeblichen Nichtexistenz eines Staates BRD und die vemeintlich sie stützenden "Theorien" entpuppen sich als Leugnung geschichtlicher  Entwicklungsergebnisse und staatlicher Realitäten, unter denen und in denen auch die "Reichsbürger" und "Phantasie-Staatler" leben - mit der Folge einer Flucht in Scheinwelten. Den Nachweis dafür kann man im Anhang lesen.

Bleibt die Frage: was treibt Menschen in diese Realitätsverleugnung? 

Ich sagte es schon: es ist Unzufriedenheit mit den Verhältnissen oder Enttäuschung über nicht erfüllte, oft unrealistische Erwartungen. Manche kommen in diesem Staat, in dieser Gesellschaft nicht zurecht. Sie sehen keine Perspektiven mehr für ein befriedigendes Leben, fühlen sich abgehängt, nicht genügend beachtet, gar verraten. Nicht wenige frühere Bürger der DDR tragen schwer an biographischen und beruflichen Abbrüchen. Auch mussten viele, teilweise allerdings später aufgehobene, Rentenkürzungen hinnehmen, die als ungerecht und als "Strafrente" empfunden wurden und werden. Das und manches andere trägt dazu bei, dass man sich eine andere Gesellschaft, einen anderen Staat wünscht, vielleicht freier oder idealer, vielleicht weniger liberal, geordneter oder autoritärer und so richtet man den Blick rückwärts in eine vermeintlich bessere Vergangenheit. Da läßt man sich gerne sagen: 

"Das ist ja alles Betrug in diesem System, mach dich frei, komm mit uns, wir helfen dir, wir bauen eine neue Welt. Wenn Du Schulden hast oder mit den Auflagen des Systems in Konflikt kommst, das ist nichtig."

Menschen mit Sendungsbewußtsein Geltungsdrang, Machtbestreben und überzeugendem Auftreten greifen das Klima der Unzufriedenheit auf und finden Gefolgschaft. Internet und Social Media machen die Verbreitung ihrer abweichenden Ideen leicht. Man kann auch ganz gut verdienen mit den Abgaben der Anhänger, die unrealistischen Versprechungen Glauben schenken. Mit dem Anschluss an Gruppen, die den faktischen Staat nicht anerkennen, sehen sie eine Möglichkeit, um ihrem Protest gegen für sie unliebsame Realitäten oder tatsächliche Ungerechtigkeiten Ausdruck zu geben. 

Zu dem hier angestoßenen Themenkomplex weise ich auf ein von 3sat ausgestrahltes Video hin. In dem Kurzfilm werden sozialpsychologische Ursachen genannt, auf die der Philosoph Theodor W. Adorno schon 1967 hingewiesen hat.

Adorno reloaded / Journalisten-Preis LiteraVision 2020

Ich meine, da ist nicht alles an der Kritik der vorfindlichen Verhältnisse unberechtigt. Es ist manches "faul im Staate BRD". Die Parallelwelten der Verleugner und Aussteiger zeichnen ein "Schattenbild" unserer Gesellschaft und vergangener oder gegenwärtiger Politik. Auch ich hätte eine ganze Reihe von Kritikpunkten vorzubringen, will das aber hier nicht tun. Einen Punkt nenne ich aber doch, weil er zu den Haupt-"Ärgernissen" gehört: die wachsende Ungleichheit von sozialen Chancen und der Verteilung von Einkommen und Vermögen, wobei einzelne Regionen besonders betroffen sind. 

Es verwundert nicht, dass, wenn der Staat bei offensichtlichen Mißständen nicht eingreift, andere aktiv werden oder, wenn er sich zurückzieht - wie in manchen ländlichen Gebiete der früheren DDR - dann Gegner das Vakuum besetzen. 

Was die Staatsverdrossenen vergessen, ist, dass es in keinem deutschen Staat jemals soviele Freiheiten gab wie in der BRD, selbst die Freiheit mental aus diesem Staat auszusteigen und gegen seine nicht als sinnvoll empfundene Anordnungen öffentlich zu demonstrieren - und damit Steuergelder für verursachte Kosten, z. B. den Polizeieinsatz, zu beanspruchen. Offenbar wird es dabei auch von den Ordnungsbehörden und Gerichten toleriert, dass  im Schutze der Meinungsfreiheit grenzwertige Parolen und ehrenrührige Darstellungen von Politikern oder anderen Personen mitgeführt werden. 

Und es dürfte nur wenig Staaten geben, in denen es sich immer noch so sicher und sozial abgesichert leben läßt wie in der BRD, wobei ich Erosionserscheinungen nicht bestreite.

Die für Notfälle und Notlagen konzipierten staatlichen "Sozialen Hilfen" sind kein "Gnadenerweis", sondern stehen den Berechtigten zu. Sie ermöglichen nicht gerade ein üppiges Leben - was ja auch nicht erwartet werden kann - decken aber die Grunderfordernisse der Versorgung und Lebenssicherung ab, wobei auch individuelle Umstände "angemessen" (amtliche Formulierung!) berücksichtigt werden.

Ebenfalls nebenbei gesagt: es sind es nicht nur "uneingliederungswillige Migranten" - wie man auf Seiten der BRD-Überdrüssigen und rechten Kartelle hervorhebt - sondern auch gewaltbereite Extreme in diesen Bewegungen, die ein Klima der Unsicherheit schaffen. Es gibt zu denken, wenn einer Befragung zufolge ein "Migrationshintergrund bedeutsam für das Risiko [ist], Opfer einer Straftat zu werden." ("Zeit Online" 02/04/19)

Was mich am meisten bei den Staatsverweigerern stört, ist, dass die Staats- und Gesellschaftskritik im Negativen und Destruktiven stecken bleibt oder in Scheinwelten führt. Mit einer Verweigerungshaltung wird keine bessere Welt gebaut. 

Entgegen den Bestreitungen gilt das "Grund-Gesetz" als grundlegendes Gesetz für jeden Bürger der BRD und hat faktisch und rechtlich auch Verfassungsrang bekommen. (Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland – Band V, C.H. Beck, München 2000, S. 1969) Mit seinen Rechten und Pflichten ist es eine gute und bewährte Grundlage für unser Zusammenleben. Es durch selbstgebastelte, frühere oder (nicht notwendigerweise) noch zu schaffende Verfassungen ersetzen zu wollen, betrachte ich als Don Quixoterie. Der Versuch, die im Grundgesetz vorgegebenen freiheitlichen und sozialen Grundlagen unserer Gesellschaft zu unterminieren, ruft Spaltungen hervor, begünstigt Willkür und fördert die Instabilität der Gesellschaft. Das mag ein Ziel radikaler Gruppierungen sein, schadet aber letzlich allen. (Ich habe noch von keinem der Staatsverweigerer gehört, dass er auf die sozialen und sonstigen Leistungen des abgelehnten Staates verzichten will.) Die Mehrheit der Deutschen und auch ich möchten auch wohl kaum in den restaurativen, autoritären, nationalistischen oder eigenbrötlerischen Staatsformen leben, die "Andersbürger" anstreben. 

Statt die Ungültigkeit des Grundgesetzes zu erklären wäre es besser, dafür einzutreten, dass seine Versprechungen da eingelöst werden, wo sie noch nicht erfüllt sind oder offensichtlich mißachtet werden. (Dazu sollte man aber nicht einzelne Rechte beanspruchen und andere nicht beachten wollen.) Das Grundgesetz wurde auch immer wieder an neue Verhältnisse angepasst und ergänzt, auch das ist eine Möglichkeit. Unsere demokratische und parlamentarische Verfassung bietet genügend konstruktive Möglichkeiten, um Veränderungen im Sinne des individuellen und gemeinsamen Wohls zu schaffen. 

Eine "erkenntnistheoretische" Nachbemerkung

Karikatur: Heiko Sakurai - Quelle: Cicero, Magazin für politische Kultur
 

Vielleicht hält man mir entgegen: Das ist deine Sicht, wir sehen das anders. Was ist Wirklichkeit, was Wahrheit? Richtig, wir sehen die Welt immer durch eine subjektive Brille. Kant hat uns gelehrt: das "Ding an sich", eine "objektive" Wirklichkeit, können wir nicht erfassen. Wir sehen die Dinge immer nur, wie sie uns "erscheinen". [Ein geschätzter Leser macht mich darauf aufmerksam, dass auch schon Platon in seinem "Höhlengleichnis" (im Dialog "Politeia") davon ausgeht, dass uns die Realität nicht direkt zugänglich ist. Nach dem griechischen Philosophen sehen wir die wahre Wirklichkeit als "Schattenspiel" an der Höhlenwand.] Dennoch gibt es unbestreitbare Realitäten, die wir erfahren, in der materiellen Welt die Schwerkraft, den Widerstand einer Wand u.a., im subjektiven Bereich Gefühle: Lust, Schmerz ... Andere Gegebenheiten sind: genetische Disposition, Milieuprägung, biographische Ereignisse ... es begegnen uns aber auch unumstößliche "Tatsachen" wie Krankheit, Tod ... Man kann sie verschieden deuten, aber wegzudiskutieren sind sie nicht. 

Die Wissenschaften bemühen sich um realitätsbezogene Erkenntnisse. Diese sind zwar einem ständigen Wandel unterworfen, aber viele sind doch von der "Wissenschafts-Community" anerkannte "Fakten", die nur Uneinsichtige und Uninformierte bestreiten, so z. B. der Klimawandel. Manche wissenschaftliche Befunde gehören vielleicht nicht zu den "harten Fakten" - da ist der Erkenntnisprozess im Fluss - aber solange sie nicht offensichtlich widerlegt werden, müssen sie ernstgenommen werden.

Wissenschaftliche Ergebnisse sind grundsätzlich offen, revidierbar und gelten nur solange, bis sie "falsifiziert" werden. Sie beruhen auf oft mühseliger und langwieriger Forschung, sorgfältigen Überprüfungsprozessen, breitem Diskurs und praktischer Bewährung an den Forschungsgegenständen oder der Realität. Sie sind nicht einfach "Meinungen", die man nach Belieben annehmen, auswählen oder ablehnen kann. So gehen "Corona-Leugner" vor, die irgendeinen Beitrag oder Befund eines Wissenschaftlers herausgreifen und als "wissenschaftlichen Beweis" ihrer voreingenommenen Auffassungen darstellen. Das ist eine Verkennung von Wissenschaft! Die Stellungnahmen von auf ihrem Gebiet ausgewiesenen und anerkannten Experten haben einen anderen Rang als die "Meinungen" von Nicht-Fachleuten. Es gehört zu einer modernen Gesellschaft und ihrer Politik, sich an wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen über Sachverhalte zu orientieren, nicht subjektiven Meinungen zu folgen. Dies - füge ich hinzu - bezieht sich auf Sachverhalte, nicht auf Fragen der existentiellen Orientierung, die von den Wissenschaften nicht gelöst werden können.

Auch im gesellschaftlichen Zusammenleben gibt es Realitäten: Übereinkünfte, Regeln, Gesetze, historische, soziale, wirtschaftliche, kulturelle, politische Gegebenheiten ... Sie sind zwar gemacht und veränderbar, aber sie nicht zu beachten, kann unerfreuliche Folgen haben.

Eine eindeutige Wirklichkeit und Wahrheit, auf die wir uns alle schnell einigen können, gibt es nicht, aber die "Dinge an sich" sind auch nicht beliebig deutbar und handhabbar. Sie können uns ganz schön Widerstand entgegensetzen. Wir müssen miteinander und in der Auseinandersetzung mit den Realitäten immer wieder aushandeln, was "der Fall ist" und wie wir mit den Gegebenheiten umgehen. Vernunft und Ethik verlangen von uns, dass wir dies argumentativ, gewaltlos, respektvoll und offen für Korrekturen tun. Wenn leider auch Gegenteiliges auf der Tagesordnung heutiger Auseinandersetzungen steht: dies ist zivilisatorisch ein Rückfall in finstere Zeiten.

Wir haben mit unseren subjektiven Deutungen der Welt und ihren Geschehnissen einen gewissen Spielraum, ebenso mit unseren subjektiv motivierten Handlungen. Aber die Gegebenheiten und Geschehnisse in der Welt und in der Gesellschaft nur nach dem eigenen Geschmack zu beurteilen und sein Leben nach dem rein subjektiven Gutdünken zu gestalten, ist nicht dauerhaft tragfähig und verantwortlich.   Das Motto: "Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt", hat seine Grenzen. Wer danach lebt, wird immer wieder den Widerstand der Realitäten spüren, mit Mitmenschen zusammenstoßen, "gegen Wände laufen" und scheitern. Glücklich wird man so auf die Dauer nicht. Realitätsverleugnung, Gesprächsverweigerung und Flucht in illusionäre Welten sind nicht nur für das persönliche Wohlergehen und Wachstum schädlich, sondern auch für das Gedeihen einer lebenswerten Gesellschaft

Die Beobachtung, dass Teile der Bevölkerung bei uns und in aller Welt offensichtlichen Realitätsverleugnern nachlaufen und - anscheinend unerschütterlich - klare Tatbestände leugnen, stellt die Grundlagen einer auf Diskussions-, Lernfähigkeit und Konsensfindung basierenden demokratischen Gesellschaft in Frage. Irrationalität, Erkenntniswiderstand und Uneinsichtigkeit blüht nicht nur im Untergrund, sondern verschafft sich Eingang in das politische und öffentliche Leben. Fanatisch "Überzeugte" scheuen auch nicht vor Gewaltsamkeit zurück! Das ist ein tiefgreifender und beunruhigender Bruch mit Traditionen und Werten, die bisher für westliche Demokratien verbindlich waren. Jeder, dem an einer offenen, aufgeklärten, partizipativen und humanen Gesellschaft liegt, sollte dem auf die ihm mögliche Weise entgegentreten. Denjenigen, die sich aus berechtigter oder berechtigt erscheinender Unzufriedenheit einer der hier genannten Bewegungen angeschlossen haben, rate ich ihre Überzeugungen mit offenem Blick auf die Realitäten zu überprüfen und sich konstruktiven, nicht persönlichkeits- und gesellschaftsschädlichen Haltungen und Veränderungsmöglichkeiten zu öffnen. 

"Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" hat Immanuel Kant 1784 den Menschen geraten, um sich aus Unmündigkeit und der Leitung durch andere zu befreien ("Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?"). Heute gehört dazu, sich verlässliche Informationen zu beschaffen, nicht ungeprüft zweifelhaften Quellen und Meinungsmachern zu folgen, sich offen mit anderen Positionen auseinanderzusetzen und bereit sein, sein bisheriges Verständnis von Sachverhalten, Geschehnissen und der eigenen Person zu ändern. Zuviel verlangt?  Nicht wenn man in der heutigen Zeit und Welt als eigenständige, teilnehmende und verantwortliche Person bestehen will.

Es gibt noch andere als die hier angeführten Personen und Gruppen, die nach dem Pippi-Langstrumpf-Motto handeln. Schauen Sie sich um!

 

Dagmar J.: "Die halbe Wahrheit" (Öl auf Leinwand)


Anhang: 

Prüfung der Argumente, die gegen die "Rechtmäßigkeit" der BRD angeführt werden

Immer wieder wird behauptet, Deutschland habe - wie nach dem Krieg vorgesehen - keinen Friedensvertrag, sei von den Siegermächten besetzt, nicht souverän und besitze keine gültige Verfassung

Tatsächlich gibt es in den Pariser Verträgen von 1954 - in denen das Besatzungsregime der Westalliierten in der Bundesrepublik aufgehoben wurde - Vorbehalte gegenüber der Souveränität Deutschlands:

„Im Hinblick auf die internationale Lage, die bisher die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abschluß eines Friedensvertrags verhindert hat, behalten die Drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung.“ (Art 2, Deutschlandvertrag)

Auch die UdSSR räumte zwar der DDR - wie die Westallierten der BRD - "volle Souveränität" ein, behielt sich aber Eingriffsrechte vor.

Dass die Siegermächte im "2+4 Vertrag" 1990 das Besatzungsstatut gänzlich aufgehoben und dem wieder vereinten Deutschland die volle Souveränität zugesprochen haben, wird hartnäckig verleugnet oder für "ungültig" erklärt.

Die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst.
Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten. (Vertrag vom 12. September 1990 über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland "2+4 Vertrag" ... Art. 7, 1.2.)

Die "Siegermächte" haben mit diesem Vertrag auf ihre frühere Forderung eines "Friedenvertrages" verzichtet und für das vereinigte Deutschland gab es gute Gründe, nicht auf einen solchen Vertrag zu bestehen. Der "2+4 Vertrag" ist aber faktisch ein Friedensvertrag, da er alle Punkte, die ein Friedensvertrag hätte abhandeln können, regelt.

Weiterhin wird eingewandt, das "Deutsche Reich" bestehe aus völkerrechtlicher Sicht immer noch - unabhängig von dem Staatsgebilde BRD. Die herrschende Meinung der Rechtswissenschaft, das Grundgesetz und die Organe der BRD (Bundesverfassungsgericht, Gerichte) gehen aber vom Fortbestand Deutschlands als völkerrechtliches Objekt und Subjekt bis zum heutigen Tag aus und damit von der Identität mit dem "Deutschen Reich". Mit der Errichtung der BRD wurde kein neuer Staat gegründet sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert. Die BRD ging zwar davon aus, dass sie die Identität mit dem "Deutschen Reich" inne habe, bezog aber im "Grundlagenvertrag" (zwischen BRD und DDR / 1973) die DDR in diese Identität mit ein. (Bundesverfassungsgericht 31.07.1973: Die BRD ist in räumlicher Hinsicht nur "teilidentisch" mit dem "Deutschen Reich"). Das "Deutsche Reich" ist also geschichtlich und rechtlich mit der Inkorporation der DDR in die BRD (und der damit verbundenen Auflösung der DDR) in dem vereinten Deutschland aufgegangen. "Am Fortbestand des ´Deutschen Reiches` in der Gestalt der Bundesrepublik Deutschlands änderte sich durch den Beitritt nichts." Heißt das nun, dass wir als Bürger der "Bundesrepublik Deutschland" doch alle "Reichsbürger" sind? Nein! Die rechtliche "Identität" bedeutet nicht, dass sich nicht die räumliche, politische, verfassungsmäßige, organisatorische oder namensgeberische Gestalt des "Deutschen Reiches" wandeln könnte. "Identität" meint in diesem Fall, dass es sich um dasselbe "Rechtssubjekt" handelt, das politisch souverän agieren kann, also sich auch im Rahmen seiner Legitimität verändern darf. 

Das einzige Argument von Seiten der "Reichsbürger", das in diesem Zusammenhang zählen könnte, ist, dass das "Grundgesetz" nicht "in freier Entscheidung vom Volke" beschlossen wurde - ein Weg des Zustandekommens , der auf manche Verfassungen zutrifft.

Tatsächlich heißt es in Art. 146:

"Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."

Dies ist aber eine "Kann"-Bestimmung, keine notwendige Forderung. Sie bedeutet auch nicht, dass das Grundgesetz nicht für alle Bürger bindend wäre. Historisch gesehen ist keine der früheren deutschen Verfassungen durch eine Volksabstimmung beschlossen worden, weder die Reichverfassung von 1871 noch die Weimarer Verfassung. Für eine demokratisch bestimmte Verfassung ist das auch nicht notwendig. Wenn seit der Französischen Revolution  als Merkmal demokratischer Verfassungen gilt, dass "alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht" (GG Art. 20,2), heißt das nicht,  ein Volk müsse direkt über seine Verhältnisse entscheiden können. Das ist ein Mißverständnis der Demokratie, wie wir sie haben. In einer parlamentarischen Demokratie wird die staatliche Macht "vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung (Parlament / Bundestag / Bundesrat), der vollziehenden Gewalt (Regierung, Verwaltungen, Polizei) und der Rechtsprechung  (Gerichte) ausgeübt.“ (GG, Art. 20,2 - "Gewaltenteilung": Legislative, Exekutive, Judikative). In föderalen Staaten wie der BRD kommen die "Hoheitsrechte" der Länder hinzu, die die zentrale Staatsgewalt einschränken oder ergänzen. Diese Art der Demokratie ist mit gutem Grund komplex und offenbar für manche Bürger nicht leicht zu durchauen und zu akzeptieren. Wenn eine Minderheit nun beansprucht, das "Volk" zu vertreten, kann sie zwar gehört und berücksichtigt werden, aber nicht das Recht daraus ableiten, Formen staatlicher Gewalt auszuüben. Sie muss sich, um ihre Forderungen in der Gesellschaft umzusetzen, auf die verfassungsmäßig vorgegebenen Wege begeben, also über das Parlament - etwa mit Petitionen - oder die Gerichte gehen, es sei denn sie will legitime Verhältnisse zerstören.

Es trifft auch nicht zu - wie angeführt wird - dass das Grundgesetz den Westdeutschen durch die Allierten "aufoktroyiert" wurde. Die tatsächliche Geschichte verlief diffenzierter: Die Westmächte ermächtigten 1948 die Ministerpräsidenten eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, die eine "demokratische Verfassung" für "eine Regierungsform des föderalistischen Typs"  ausarbeiten sollte. Die Ministerpräsidenten entschieden sich, einen von den westlichen Länderparlamenten gewählten Parlamentarischen Rat zu bilden, der auf der Grundlage der Vorschläge eines Verfassungskonventes  das Grundgesetz ausarbeitete. Die "Väter" und "Mütter" des Grundgesetzes schufen in bewußter Abhebung von der NS-Diktatur und der Weimarer Republik eine Verfassung, die demokratischen, föderalen und international anerkannten menschenrechtlichen Traditionen verpflichtet ist. Es war klar, dass es nach dem Fiasko des Hitler-Reiches nur eine Verfassung in dieser Richtung geben konnte. Unter den historischen und rechtlichen Umständen - es gab weder eine deutsche Souveränität noch die Voraussetzungen für eine gesamtdeutsche Verfassung - ist die Entstehung des Grundgesetzes als Akt zu betrachten, der, soweit damals möglich, demokratisch legitimiert war, auch dadurch, dass er Länderbelange, Parteien und wichtige gesellschaftliche Interessengruppen (wie Kirchen und Gewerkschaften) mit einbezog. Soweit sich das festellen lässt, geschah er im Sinne der Mehrheit der Deutschen in den westlichen Besatzungszonen. Darüberhinaus wurde er im Blick auf das gesamte deutsche Volk unternommen. Nach der Genehmigung durch die Militärgouverneure der britischen, amerikanischen und französischen Besatzungszonen nahmen 1949 die "vom Volke" gewählten westdeutschen Landtage den Entwurf an (mit Ausnahme  Bayerns, das sich aber der Mehrheit unterordnete). Vom Sinn und Anspruch her und faktisch ist das ursprünglich als "Provisorium" (bis zur "Wiedervereinigung") vorgesehene Grundgesetz zur anererkannten Verfassung erst West-, dann Gesamt-Deutschlands geworden, auch wenn es es nicht den Namen einer "Verfassung" trägt.

Das "vom Volke" frei gewählte letzte DDR-Parlament, die "Volkskammer", hat sich nach vorheriger kontroverser Diskussion der Frage, ob eine neue Verfassung geschaffen werden oder das BDR-Grundgesetz gelten solle, unter dem Druck der Präferenzen der Bevölkerung dafür entschieden, dem Grundgesetz zu folgen. Mag sein, dass es für das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands besser gewesen wären, statt des "Beitritts" eine längerfristige "Wiedervereinigung" und statt der Übernahme des Grundgesetzes eine neue gemeinsam erarbeitetete Verfassung zu schaffen. Doch nachträglich besteht auf Grund der Bewährung und der demokratischen, sozialen und föderalen Ausrichtung des Grundgesetzes kein Anlass mehr, es durch eine neue Verfassung zu ersetzen.

Zurück zur Frage des völkerrechlichen Status und der Souveränität des gegenwärtigen Deutschlands. Die BRD besitzt die völkerrechtlichen Merkmale eines souveränen Staates: "Staatsgewalt", "Gebietshoheit" und "Staatsvolk". In der internationalen Gemeinschaft ist es unstreitig, dass die BRD ein souveräner Staat ist, wobei die Souveränität den Anspruch einschließt, das "Deutsche Reich" auf seine Weise fortzusetzen. Die internationale Anerkennung wird auch dadurch bestätigt, dass Deutschland Mitglied der UN ist, also zum Kreis der weltweit anerkannten Staaten gehört. Wenn Privatpersonen, Gruppen oder auch andere Regierungen das bestreiten, hat das nur deklaratorischen Charakter und ist rechtlich völlig irrelevant. Ein "Schattenreich", wie es "Reichsbürger" konstruieren, existiert nicht real und hat keinerlei rechtliche oder politische Bedeutung. Es ist für deutsche Staatsangehörige rechtlich nicht möglich, sich der Personalhoheit des deutschen Staates zu entziehen - es sei denn durch Annahme einer anderen anerkannten Staatsangehörigkeit. Ebenso ist es nicht möglich, auf dem Gebiet des deutschen Staates eine eigene "Gebietshoheit" zu beanspruchen, da bleibt nur die Alternative: Auswandern. Das gilt auch für frühere Bürger der DDR. Das letzte, demokratisch gewählte Parlament der DDR ist im "Einigungsvertrag" der BRD und "dem Geltungsbereich" des Grundgesetzes (das mit mit Änderungen und Anpassungen versehen wurde) "beigetreten", mit großer Zustimmung des "Volkes". Als Staatswesen existiert die DDR nicht mehr, auch ihre angebliche rechtliche Weiterexistenz ist ein "Schattengebilde" in den Köpfen einiger hartnäckiger Realitätsverweigerer. Mit dem Wirksamwerden des Beitritt gilt für das Gebiet der früheren DDR das gesamte Bundesrecht bis auf einige Modifikationen und Reste des früheren DDR-Rechts (soweit diese mit dem Grundgesetz und dem europäischen Recht vereinbar sind).

Die Behauptung, die BRD sei nach wie vor "besetzt" - das wird mit dem Hinweis auf Truppenstationierung und Politikabhängigkeit (vor allem von den USA) begründet - und sei somit nicht wirklich souverän, beruht auf einer einseitigen Sicht. Es gibt wohl keinen Staat auf der Welt, der nicht durch geschichtliche Umstände und frei abgeschlossene Verträge in militärische, wirtschaftliche und politische Verbindungen eingebunden ist. Damit ist kein Staat "voll" souverän und das ist auch gar nicht wünschenswert. Eine andere Frage ist, ob solche Einbindungen oder Abhängigkeiten immer sinnvoll sind. Darüber läßt sich diskutieren. 

Vorausblick: Der nächste Post wird sich mit dem Thema befassen: In der Kirche bleiben oder austreten?

Bis der nächste Artikel hier erscheint, verweise ich auf meine Beiträge im Online-Magazin "Telepolis

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